Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
sein, jetzt zählt auch dieses Moment als ein durch seine Isolirung Ein- 4. Gefühlsweben, worin keine feste Gestalt möglich ist, ein Fortzittern 5. Begeisterung, die planlos fortreißt, ist von der Zerflossenheit des
ſein, jetzt zählt auch dieſes Moment als ein durch ſeine Iſolirung Ein- 4. Gefühlsweben, worin keine feſte Geſtalt möglich iſt, ein Fortzittern 5. Begeiſterung, die planlos fortreißt, iſt von der Zerfloſſenheit des <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0100" n="386"/> ſein, jetzt zählt auch dieſes Moment als ein durch ſeine Iſolirung Ein-<lb/> ſeitigkeit begründendes. Es könnte unlogiſch erſcheinen, daß wir neben<lb/> Gehalt ohne Form auch Form mit verkehrtem Gehalt eben hier auffüh-<lb/> ren; allein auch bei ſchlechtem Gehalte verhält es ſich in unſrem Zuſam-<lb/> menhange ſo, daß das Subject ihn als ſolchen an Mann bringen will,<lb/> alſo die Form ihm nicht Selbſtzweck iſt. Mit guter Geſinnung iſt wahres<lb/> Denken, mit ſchlechter Geſinnung verkehrtes Denken natürlich bei-<lb/> ſammen, obwohl ſie unterſcheidbar ſind. Jenes Paar bildet die ſchwer-<lb/> löthige, auf den baaren Gewinn an guten Willensbewegungen oder Wahr-<lb/> heiten arbeitende Abart des praktiſch oder theoretiſch Didaktiſchen. Sie<lb/> iſt mehr oder minder abſichtlich, hat mehr oder weniger unorganiſches<lb/> Verhältniß zwiſchen Idee und Bild, verfährt direct ernſt und witzig oder<lb/> indirect ironiſch, wird zur Satyre u. ſ. w. — das Alles gehört in con-<lb/> cretere Theile des Syſtems. Die ſchlechte Geſinnung und die innere Lüge<lb/> aber iſt zwar auch didaktiſch, ſucht Proſelyten, wirft ſich aber ebendarum<lb/> mit voller Eitelkeit, doch immer unorganiſch und abſichtlich, in die beſtechende<lb/> Form und wird häßlich, indem ſie Mißbildungen, Mißverhältniſſe,<lb/> insbeſondere die Entſtellung durch Lüſternheit, was Alles ſich in’s Erha-<lb/> bene oder Komiſche aufheben ſollte, ohne dieſe Aufhebung fixirt. Sie ver-<lb/> bindet ſich daher mit der Einbildungskraft als einſeitiger Kraft, ihrer<lb/> Ueppigkeit, ihrem Gaukeln, ihren ſtoffartigen Erregungen. Sie beſonders<lb/> wirft ſich gern in das Traumartige und legt Wahnſinn der Verzweiflung<lb/> in ihre Larven. Aber ſie ſucht heuchleriſch auch devote, blöde, demüthige<lb/> Formen, wie der moderne Kunſtpietiſmus. Geſpenſter ſind dieſe ſo gut<lb/> wie die reizenden oder grauſigen Larven; das rothe Mäuschen ſpringt<lb/> allen aus dem Munde, Eckel und Grauſen lauert hinter allen. Auch<lb/> dieſes Gebiet zeigt ſich concret erſt in erfüllteren Theilen des Syſtems.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">4. Gefühlsweben, worin keine feſte Geſtalt möglich iſt, ein Fortzittern<lb/> der Stimmung, das nur unreife Bildungen von zerfließenden und ver-<lb/> klingenden Umriſſen erzeugt: ſentimental im tadelnden Sinne. Auch hier<lb/> liegt eine Form vor, die zwar in jeder Zeit auftreten kann, (Herder z.<lb/> B. und Hölderlin gehören unter dieſe „paſſiven, weiblichen Genies“ wie<lb/> ſie J. Paul nennt, und ſie hätten auch in einer anders geſtimmten Zeit<lb/> den Uebergang zum vollen Geſtalten nicht gefunden); allerdings aber hat<lb/> ſie erſt in der Geſchichte der Phantaſie ihre rechte Stelle.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">5. Begeiſterung, die planlos fortreißt, iſt von der Zerfloſſenheit des<lb/> Gefühls zu unterſcheiden. Sie wird es zwar auch nicht zu reifen Geſtal-<lb/> ten bringen, ja ſie wird, da ihre Geſtalten ſie mit dem unfreien Zuge<lb/> ſittlicher Stoffartigkeit fortnehmen, ganz leicht in formloſes Ethiſiren fal-<lb/> len; aber die Gefühls-Phantaſie iſt trunken auf andere Weiſe, zerſtört<lb/> gerne den Plan mit der ſubjectiveren Willkühr des empfindſeligen Hu-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [386/0100]
ſein, jetzt zählt auch dieſes Moment als ein durch ſeine Iſolirung Ein-
ſeitigkeit begründendes. Es könnte unlogiſch erſcheinen, daß wir neben
Gehalt ohne Form auch Form mit verkehrtem Gehalt eben hier auffüh-
ren; allein auch bei ſchlechtem Gehalte verhält es ſich in unſrem Zuſam-
menhange ſo, daß das Subject ihn als ſolchen an Mann bringen will,
alſo die Form ihm nicht Selbſtzweck iſt. Mit guter Geſinnung iſt wahres
Denken, mit ſchlechter Geſinnung verkehrtes Denken natürlich bei-
ſammen, obwohl ſie unterſcheidbar ſind. Jenes Paar bildet die ſchwer-
löthige, auf den baaren Gewinn an guten Willensbewegungen oder Wahr-
heiten arbeitende Abart des praktiſch oder theoretiſch Didaktiſchen. Sie
iſt mehr oder minder abſichtlich, hat mehr oder weniger unorganiſches
Verhältniß zwiſchen Idee und Bild, verfährt direct ernſt und witzig oder
indirect ironiſch, wird zur Satyre u. ſ. w. — das Alles gehört in con-
cretere Theile des Syſtems. Die ſchlechte Geſinnung und die innere Lüge
aber iſt zwar auch didaktiſch, ſucht Proſelyten, wirft ſich aber ebendarum
mit voller Eitelkeit, doch immer unorganiſch und abſichtlich, in die beſtechende
Form und wird häßlich, indem ſie Mißbildungen, Mißverhältniſſe,
insbeſondere die Entſtellung durch Lüſternheit, was Alles ſich in’s Erha-
bene oder Komiſche aufheben ſollte, ohne dieſe Aufhebung fixirt. Sie ver-
bindet ſich daher mit der Einbildungskraft als einſeitiger Kraft, ihrer
Ueppigkeit, ihrem Gaukeln, ihren ſtoffartigen Erregungen. Sie beſonders
wirft ſich gern in das Traumartige und legt Wahnſinn der Verzweiflung
in ihre Larven. Aber ſie ſucht heuchleriſch auch devote, blöde, demüthige
Formen, wie der moderne Kunſtpietiſmus. Geſpenſter ſind dieſe ſo gut
wie die reizenden oder grauſigen Larven; das rothe Mäuschen ſpringt
allen aus dem Munde, Eckel und Grauſen lauert hinter allen. Auch
dieſes Gebiet zeigt ſich concret erſt in erfüllteren Theilen des Syſtems.
4. Gefühlsweben, worin keine feſte Geſtalt möglich iſt, ein Fortzittern
der Stimmung, das nur unreife Bildungen von zerfließenden und ver-
klingenden Umriſſen erzeugt: ſentimental im tadelnden Sinne. Auch hier
liegt eine Form vor, die zwar in jeder Zeit auftreten kann, (Herder z.
B. und Hölderlin gehören unter dieſe „paſſiven, weiblichen Genies“ wie
ſie J. Paul nennt, und ſie hätten auch in einer anders geſtimmten Zeit
den Uebergang zum vollen Geſtalten nicht gefunden); allerdings aber hat
ſie erſt in der Geſchichte der Phantaſie ihre rechte Stelle.
5. Begeiſterung, die planlos fortreißt, iſt von der Zerfloſſenheit des
Gefühls zu unterſcheiden. Sie wird es zwar auch nicht zu reifen Geſtal-
ten bringen, ja ſie wird, da ihre Geſtalten ſie mit dem unfreien Zuge
ſittlicher Stoffartigkeit fortnehmen, ganz leicht in formloſes Ethiſiren fal-
len; aber die Gefühls-Phantaſie iſt trunken auf andere Weiſe, zerſtört
gerne den Plan mit der ſubjectiveren Willkühr des empfindſeligen Hu-
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