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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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ist, zusammenfassen. Den Unterschied von Mythus und Sage werden
wir im Folgenden einführen. Man sehe nun auf die §§. des ersten Theils,
welche von der Religion handeln, zurück; es bedarf keiner neuen Aus-
einandersetzung, sondern nur der Fortführung des dort Entwickelten, hier
wieder Aufgefaßten. Diese Fortführung liegt also darin, daß die neue
Welt von vermeinten Gegenständen, die doch nichts Anderes ist, als eine
Weise, das Ganze der wirklichen Gegenstände sich vorzustellen, ein Werk
der allgemeinen Phantasie, für eine andere Phantasie, für die wahrhaft
ästhetische der besonders Begabten, wiederum Stoff wird. Stoff aber
zu werden ist sie bestimmt, weil sie allerdings, obwohl subjectives Pro-
duct, die Mängel der Naturschönheit hat. Wir sagten zwar zu §. 416,
daß die Volksphantasie ein organisches Ganzes baue, dessen Mängel
ihr bildender Instinct überheile, zu Motiven benütze. Verfährt sie aber
dabei eben wie eine blinde Naturkraft, so kann es ohne eine Menge von
störenden Zufälligkeiten auch dabei nicht abgehen; es entsteht wohl ein
Ganzes, über dem aber ein Nebel, ein Schleier von Bewußtlosigkeit,
"Dummklarheit" liegt, unter welchem nur die großen Züge leserlich, die
kleinen halbleserlich sind, ein Ganzes, worin die Phantasie noch nicht
völlig aus der chaotischen Einbildungskraft herausgearbeitet erscheint, das
daher auf seinen eigenen Urheber, wie wir zum vorh. §. sahen, stoffartig
wirkt. So entsteht der Bilderkreis der Religion: er ist da, er scheint
vorgefunden, das Bewußtsein hält ihn für gegeben, geoffenbart; und so
findet die wahrhaft schöne Phantasie ihn vor und greift hinein, um sich
Stoffe daraus zu nehmen, wie aus der Welt der eigentlichen Natur-
schönheit.

§. 418.

Diese von der allgemeinen Phantasie gebildete neue Welt von Stoffen
legt sich also zwischen die ursprüngliche Stoffwelt und zwischen die besondere
Phantasie. Dieß ist Vorschub und Zuwachs, aber ebensosehr Verlust und Hin-
derniß, denn die zweite, neue Stoffwelt tritt als dichter Schleier vor die ursprüng-
liche, von der sie ein Auszug ist. Die ursprüngliche Stoffwelt wird zwar
dadurch, obwohl verengt, doch nicht völlig verhüllt; es entstehen zwei Kreise, ein
religiöser und ein weltlicher oder natürlicher. Aber weil die Zweiheit der
Kreise an sich ein Widerspruch ist (vergl. §. 62), so wird dem weltlichen Ge-
walt angethan, er wird von der in die höhere Thätigkeit der Phantasie sich
fortsetzenden Einbildungskraft durchlöchert und verschoben. Auch die besondere
Phantasie wird sich, da das schöpferische Individuum selbst im Boden der all-
gemeinen wurzelt, eines Theils ihrer Freiheit begeben, sie hängt selbst an der
Verwechslung und nur unter der Hand hebt sie dieß Verhältniß in ihrer reinen
Formthätigkeit auf (vergl. §. 63).


iſt, zuſammenfaſſen. Den Unterſchied von Mythus und Sage werden
wir im Folgenden einführen. Man ſehe nun auf die §§. des erſten Theils,
welche von der Religion handeln, zurück; es bedarf keiner neuen Aus-
einanderſetzung, ſondern nur der Fortführung des dort Entwickelten, hier
wieder Aufgefaßten. Dieſe Fortführung liegt alſo darin, daß die neue
Welt von vermeinten Gegenſtänden, die doch nichts Anderes iſt, als eine
Weiſe, das Ganze der wirklichen Gegenſtände ſich vorzuſtellen, ein Werk
der allgemeinen Phantaſie, für eine andere Phantaſie, für die wahrhaft
äſthetiſche der beſonders Begabten, wiederum Stoff wird. Stoff aber
zu werden iſt ſie beſtimmt, weil ſie allerdings, obwohl ſubjectives Pro-
duct, die Mängel der Naturſchönheit hat. Wir ſagten zwar zu §. 416,
daß die Volksphantaſie ein organiſches Ganzes baue, deſſen Mängel
ihr bildender Inſtinct überheile, zu Motiven benütze. Verfährt ſie aber
dabei eben wie eine blinde Naturkraft, ſo kann es ohne eine Menge von
ſtörenden Zufälligkeiten auch dabei nicht abgehen; es entſteht wohl ein
Ganzes, über dem aber ein Nebel, ein Schleier von Bewußtloſigkeit,
„Dummklarheit“ liegt, unter welchem nur die großen Züge leſerlich, die
kleinen halbleſerlich ſind, ein Ganzes, worin die Phantaſie noch nicht
völlig aus der chaotiſchen Einbildungskraft herausgearbeitet erſcheint, das
daher auf ſeinen eigenen Urheber, wie wir zum vorh. §. ſahen, ſtoffartig
wirkt. So entſteht der Bilderkreis der Religion: er iſt da, er ſcheint
vorgefunden, das Bewußtſein hält ihn für gegeben, geoffenbart; und ſo
findet die wahrhaft ſchöne Phantaſie ihn vor und greift hinein, um ſich
Stoffe daraus zu nehmen, wie aus der Welt der eigentlichen Natur-
ſchönheit.

§. 418.

Dieſe von der allgemeinen Phantaſie gebildete neue Welt von Stoffen
legt ſich alſo zwiſchen die urſprüngliche Stoffwelt und zwiſchen die beſondere
Phantaſie. Dieß iſt Vorſchub und Zuwachs, aber ebenſoſehr Verluſt und Hin-
derniß, denn die zweite, neue Stoffwelt tritt als dichter Schleier vor die urſprüng-
liche, von der ſie ein Auszug iſt. Die urſprüngliche Stoffwelt wird zwar
dadurch, obwohl verengt, doch nicht völlig verhüllt; es entſtehen zwei Kreiſe, ein
religiöſer und ein weltlicher oder natürlicher. Aber weil die Zweiheit der
Kreiſe an ſich ein Widerſpruch iſt (vergl. §. 62), ſo wird dem weltlichen Ge-
walt angethan, er wird von der in die höhere Thätigkeit der Phantaſie ſich
fortſetzenden Einbildungskraft durchlöchert und verſchoben. Auch die beſondere
Phantaſie wird ſich, da das ſchöpferiſche Individuum ſelbſt im Boden der all-
gemeinen wurzelt, eines Theils ihrer Freiheit begeben, ſie hängt ſelbſt an der
Verwechslung und nur unter der Hand hebt ſie dieß Verhältniß in ihrer reinen
Formthätigkeit auf (vergl. §. 63).


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[405/0119] iſt, zuſammenfaſſen. Den Unterſchied von Mythus und Sage werden wir im Folgenden einführen. Man ſehe nun auf die §§. des erſten Theils, welche von der Religion handeln, zurück; es bedarf keiner neuen Aus- einanderſetzung, ſondern nur der Fortführung des dort Entwickelten, hier wieder Aufgefaßten. Dieſe Fortführung liegt alſo darin, daß die neue Welt von vermeinten Gegenſtänden, die doch nichts Anderes iſt, als eine Weiſe, das Ganze der wirklichen Gegenſtände ſich vorzuſtellen, ein Werk der allgemeinen Phantaſie, für eine andere Phantaſie, für die wahrhaft äſthetiſche der beſonders Begabten, wiederum Stoff wird. Stoff aber zu werden iſt ſie beſtimmt, weil ſie allerdings, obwohl ſubjectives Pro- duct, die Mängel der Naturſchönheit hat. Wir ſagten zwar zu §. 416, daß die Volksphantaſie ein organiſches Ganzes baue, deſſen Mängel ihr bildender Inſtinct überheile, zu Motiven benütze. Verfährt ſie aber dabei eben wie eine blinde Naturkraft, ſo kann es ohne eine Menge von ſtörenden Zufälligkeiten auch dabei nicht abgehen; es entſteht wohl ein Ganzes, über dem aber ein Nebel, ein Schleier von Bewußtloſigkeit, „Dummklarheit“ liegt, unter welchem nur die großen Züge leſerlich, die kleinen halbleſerlich ſind, ein Ganzes, worin die Phantaſie noch nicht völlig aus der chaotiſchen Einbildungskraft herausgearbeitet erſcheint, das daher auf ſeinen eigenen Urheber, wie wir zum vorh. §. ſahen, ſtoffartig wirkt. So entſteht der Bilderkreis der Religion: er iſt da, er ſcheint vorgefunden, das Bewußtſein hält ihn für gegeben, geoffenbart; und ſo findet die wahrhaft ſchöne Phantaſie ihn vor und greift hinein, um ſich Stoffe daraus zu nehmen, wie aus der Welt der eigentlichen Natur- ſchönheit. §. 418. Dieſe von der allgemeinen Phantaſie gebildete neue Welt von Stoffen legt ſich alſo zwiſchen die urſprüngliche Stoffwelt und zwiſchen die beſondere Phantaſie. Dieß iſt Vorſchub und Zuwachs, aber ebenſoſehr Verluſt und Hin- derniß, denn die zweite, neue Stoffwelt tritt als dichter Schleier vor die urſprüng- liche, von der ſie ein Auszug iſt. Die urſprüngliche Stoffwelt wird zwar dadurch, obwohl verengt, doch nicht völlig verhüllt; es entſtehen zwei Kreiſe, ein religiöſer und ein weltlicher oder natürlicher. Aber weil die Zweiheit der Kreiſe an ſich ein Widerſpruch iſt (vergl. §. 62), ſo wird dem weltlichen Ge- walt angethan, er wird von der in die höhere Thätigkeit der Phantaſie ſich fortſetzenden Einbildungskraft durchlöchert und verſchoben. Auch die beſondere Phantaſie wird ſich, da das ſchöpferiſche Individuum ſelbſt im Boden der all- gemeinen wurzelt, eines Theils ihrer Freiheit begeben, ſie hängt ſelbſt an der Verwechslung und nur unter der Hand hebt ſie dieß Verhältniß in ihrer reinen Formthätigkeit auf (vergl. §. 63).

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/119>, abgerufen am 21.11.2024.