Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
dieß ist eine neue Fähigkeit, die wir hier von der allgemeinen Phantasie §. 420. Hieraus erhellt, daß die Geschichte der Phantasie mit der Geschichte der
dieß iſt eine neue Fähigkeit, die wir hier von der allgemeinen Phantaſie §. 420. Hieraus erhellt, daß die Geſchichte der Phantaſie mit der Geſchichte der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0121" n="407"/> dieß iſt eine neue Fähigkeit, die wir hier von der allgemeinen Phantaſie<lb/> ausſagen, denn bisher wußten wir nur, daß ſie das Naturſchöne findet<lb/> und genießt. Kann ſie das Letztere, kann ſie ſogar in der Weiſe der<lb/> Geſammt-Erfindung, die wir vorläufig ſchlechtweg Sagenbildung nennen<lb/> wollen, Schönheit ſelbſt ſchaffen, ſo muß ſie nothwenig auch für den<lb/> Genuß des Ideals empfänglich ſein. Nun bleibt ſie freilich auch hier<lb/> ſtoffartig, ſie verwechſelt es mit dem Gotte ſelbſt, es iſt ihr Vehikel<lb/> der Andacht (§. 64. 65); aber je ſchöner es iſt, deſto zerſtreuter wird als<lb/> ſolche die Andacht und geht in die Sammlung des rein äſthetiſchen Ge-<lb/> nuſſes über, deſto mehr befreit es auch das Volk vom unfreien Scheine.<lb/> So war die Kunſtblüthe Italiens im ſechzehnten Jahrhundert eine Art<lb/> von Surrogat für die Reformation. Gleichzeitig wurde dieſe durch das<lb/> freie Denken in Deutſchland erzeugt. Die Reformation zeigt nun auch,<lb/> wie allerdings das Volk ſelbſt nach einer Umwälzung, welche den un-<lb/> freien Schein in der Wurzel erſchüttert, fortfährt, dieſen zwar nicht pro-<lb/> ductiv zu erweitern, aber doch ſeine Trümmer feſtzuhalten; aber die ächte,<lb/> die rein äſthetiſche Phantaſie kann nun nicht mehr davon getäuſcht wer-<lb/> den, die Welt ſelbſt liegt ihr aufgeſchlagen, der verhüllende Körper der<lb/> zweiten Stoffwelt iſt ihr nicht mehr im Lichte. Hält dennoch auch ſie<lb/> noch an jenem Auszuge der Welt, den die allgemeine Phantaſie als<lb/> Religion geſchaffen hat, ſo entſtehen Aftergebilde, die wir kennen lernen<lb/> werden. Die Volksphantaſie hört allerdings niemals ganz auf, in ihrer<lb/> Weiſe zu produziren; erzeugt ſie keine Götterſagen, keine Heldenſagen<lb/> mehr, ſo erhöht ſie doch dieß und jenes Geſchehene in der Erinnerung,<lb/> zieht ſeine Züge in ein energiſches Bild zuſammen und überliefert ſo der<lb/> beſondern Phantaſie allerhand Stoffe; doch dieß will wenig heißen, der<lb/> Genius hält ſich vielmehr jetzt im Großen an die reine Geſchichte und die<lb/> Natur ſelbſt, nur in engerem Gebiete können ihm Stoffe des Privatlebens,<lb/> welche überhaupt nicht die Geſchichte, ſondern die Ueberlieferung einer<lb/> Stadt, Provinz ſo oder ſo durch Phantaſie ſchon zubereitet überliefert, in<lb/> ſagenhafter Geſtalt noch dienlich ſein. Was aber die Volksphantaſie in<lb/> der Weiſe des die Natur- und Geſchichtsgeſetze durchlöchernden Dichtens<lb/> im Großen noch feſthält, kann ihm Stoff werden nur in dem Sinne,<lb/> daß er das pſychologiſche Schauſpiel des Glaubens, nicht das Geglaubte<lb/> zum Gegenſtande nimmt. Im Ganzen aber bleibt es dabei, daß die all-<lb/> gemeine Phantaſie nicht mehr Stoff bildet, ſondern jetzt nur noch das Zu-<lb/> ſehen hat.</hi> </p> </div><lb/> <div n="4"> <head>§. 420.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Hieraus erhellt, daß die Geſchichte der Phantaſie mit der Geſchichte der<lb/> Religion Hand in Hand geht, daß aber der Bund kein dauernder iſt (vergl.<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [407/0121]
dieß iſt eine neue Fähigkeit, die wir hier von der allgemeinen Phantaſie
ausſagen, denn bisher wußten wir nur, daß ſie das Naturſchöne findet
und genießt. Kann ſie das Letztere, kann ſie ſogar in der Weiſe der
Geſammt-Erfindung, die wir vorläufig ſchlechtweg Sagenbildung nennen
wollen, Schönheit ſelbſt ſchaffen, ſo muß ſie nothwenig auch für den
Genuß des Ideals empfänglich ſein. Nun bleibt ſie freilich auch hier
ſtoffartig, ſie verwechſelt es mit dem Gotte ſelbſt, es iſt ihr Vehikel
der Andacht (§. 64. 65); aber je ſchöner es iſt, deſto zerſtreuter wird als
ſolche die Andacht und geht in die Sammlung des rein äſthetiſchen Ge-
nuſſes über, deſto mehr befreit es auch das Volk vom unfreien Scheine.
So war die Kunſtblüthe Italiens im ſechzehnten Jahrhundert eine Art
von Surrogat für die Reformation. Gleichzeitig wurde dieſe durch das
freie Denken in Deutſchland erzeugt. Die Reformation zeigt nun auch,
wie allerdings das Volk ſelbſt nach einer Umwälzung, welche den un-
freien Schein in der Wurzel erſchüttert, fortfährt, dieſen zwar nicht pro-
ductiv zu erweitern, aber doch ſeine Trümmer feſtzuhalten; aber die ächte,
die rein äſthetiſche Phantaſie kann nun nicht mehr davon getäuſcht wer-
den, die Welt ſelbſt liegt ihr aufgeſchlagen, der verhüllende Körper der
zweiten Stoffwelt iſt ihr nicht mehr im Lichte. Hält dennoch auch ſie
noch an jenem Auszuge der Welt, den die allgemeine Phantaſie als
Religion geſchaffen hat, ſo entſtehen Aftergebilde, die wir kennen lernen
werden. Die Volksphantaſie hört allerdings niemals ganz auf, in ihrer
Weiſe zu produziren; erzeugt ſie keine Götterſagen, keine Heldenſagen
mehr, ſo erhöht ſie doch dieß und jenes Geſchehene in der Erinnerung,
zieht ſeine Züge in ein energiſches Bild zuſammen und überliefert ſo der
beſondern Phantaſie allerhand Stoffe; doch dieß will wenig heißen, der
Genius hält ſich vielmehr jetzt im Großen an die reine Geſchichte und die
Natur ſelbſt, nur in engerem Gebiete können ihm Stoffe des Privatlebens,
welche überhaupt nicht die Geſchichte, ſondern die Ueberlieferung einer
Stadt, Provinz ſo oder ſo durch Phantaſie ſchon zubereitet überliefert, in
ſagenhafter Geſtalt noch dienlich ſein. Was aber die Volksphantaſie in
der Weiſe des die Natur- und Geſchichtsgeſetze durchlöchernden Dichtens
im Großen noch feſthält, kann ihm Stoff werden nur in dem Sinne,
daß er das pſychologiſche Schauſpiel des Glaubens, nicht das Geglaubte
zum Gegenſtande nimmt. Im Ganzen aber bleibt es dabei, daß die all-
gemeine Phantaſie nicht mehr Stoff bildet, ſondern jetzt nur noch das Zu-
ſehen hat.
§. 420.
Hieraus erhellt, daß die Geſchichte der Phantaſie mit der Geſchichte der
Religion Hand in Hand geht, daß aber der Bund kein dauernder iſt (vergl.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |