gezählt werden müssen. Wie sie sich zu den Reihen anderer Arten der Phantasie verhält, davon nachher.
2. Nun würde, wären wir auf rein ästhetischem Boden, nichts folgen, als daß die Phantasie des Orients vorzüglich darauf angewiesen war, landschaftliche und thierische Schönheit darzustellen, denn wenn wir auf jenem Boden uns befänden, so gälte es nur, die Erscheinungen aus dieser Sphäre der Stoffwelt so zu idealisiren, daß ihre Gestalt zugleich mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön- heit erhoben würde. Allein wir sind davon vielmehr soweit als möglich noch entfernt und mit einer Phantasie beschäftigt, welche in jene so be- grenzten Erscheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee, und daher nichts weniger zu schaffen berufen ist, als landschaftliche und thierische Schönheit im unbefangen ästhetischen Sinne. Was ist denn nun dieß Andere? Wir müssen zuerst zurücktreten von der Formthätigkeit der Phantasie als solcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject voraussetzten, so hier Volksgeister, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie sie ihn kennen und verstehen, voraussetzen. Dazu müssen wir dann den Dualismus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientalischen Cha- rakter überhaupt aufstellten, und zwar von diesem zunächst die Seite des brütenden Insichseins, der abstracten Sammlung des Geistes. Dieser Geist, der, wenn er sich auf die Einheit der Dinge besinnt, die Be- stimmtheit verliert, wird die absolute Idee nur wie einen unendli- chen Abgrund ahnen. In diesen Abgrund versenkt er, wie die Be- stimmtheit der Natur, so auch die sittlich menschliche Bestimmtheit, was ihm von ihr bekannt ist, und bekannt ist ihm das sittliche Leben nur als ein solches, das selbst wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat. Dieser Abgrund ist abstract, aber nicht abstract im Sinne eines logischen Gedankens, sondern abstract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin- den, dunkeln unterscheidungslosen Macht. Doch die abstracte Besinnung setzt allerdings auch Momente, Unterschiede; diese sind aber selbst wieder abstracte Kategorieen des Naturseins: Sein, Werden, Vergehen, Her- vorbringen, Nähren u. s. w. Mit solchem Gehalte erfüllt geht der Mensch an die Natur, findet sie als eine bestimmte örtliche Umgebung vor. Nun scheint es, da er nur von der unbegeisteten Natur zur Phan- tasiethätigkeit sollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren abstracten Mo- menten passe dazu, mit den Existenzformen des unbewußten Lebens sich zu einem Producte der Phantasie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu- sammenzuschmelzen. Allein jede Naturerscheinung ist individuell, ist be- stimmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Also deckt sich nicht, was der Geist hinzubringt und was ihm die Naturerscheinung entgegen- bringt; also kann die Phantasie den Gegenstand nicht innerhalb der be-
gezählt werden müſſen. Wie ſie ſich zu den Reihen anderer Arten der Phantaſie verhält, davon nachher.
2. Nun würde, wären wir auf rein äſthetiſchem Boden, nichts folgen, als daß die Phantaſie des Orients vorzüglich darauf angewieſen war, landſchaftliche und thieriſche Schönheit darzuſtellen, denn wenn wir auf jenem Boden uns befänden, ſo gälte es nur, die Erſcheinungen aus dieſer Sphäre der Stoffwelt ſo zu idealiſiren, daß ihre Geſtalt zugleich mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön- heit erhoben würde. Allein wir ſind davon vielmehr ſoweit als möglich noch entfernt und mit einer Phantaſie beſchäftigt, welche in jene ſo be- grenzten Erſcheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee, und daher nichts weniger zu ſchaffen berufen iſt, als landſchaftliche und thieriſche Schönheit im unbefangen äſthetiſchen Sinne. Was iſt denn nun dieß Andere? Wir müſſen zuerſt zurücktreten von der Formthätigkeit der Phantaſie als ſolcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject vorausſetzten, ſo hier Volksgeiſter, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie ſie ihn kennen und verſtehen, vorausſetzen. Dazu müſſen wir dann den Dualiſmus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientaliſchen Cha- rakter überhaupt aufſtellten, und zwar von dieſem zunächſt die Seite des brütenden Inſichſeins, der abſtracten Sammlung des Geiſtes. Dieſer Geiſt, der, wenn er ſich auf die Einheit der Dinge beſinnt, die Be- ſtimmtheit verliert, wird die abſolute Idee nur wie einen unendli- chen Abgrund ahnen. In dieſen Abgrund verſenkt er, wie die Be- ſtimmtheit der Natur, ſo auch die ſittlich menſchliche Beſtimmtheit, was ihm von ihr bekannt iſt, und bekannt iſt ihm das ſittliche Leben nur als ein ſolches, das ſelbſt wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat. Dieſer Abgrund iſt abſtract, aber nicht abſtract im Sinne eines logiſchen Gedankens, ſondern abſtract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin- den, dunkeln unterſcheidungsloſen Macht. Doch die abſtracte Beſinnung ſetzt allerdings auch Momente, Unterſchiede; dieſe ſind aber ſelbſt wieder abſtracte Kategorieen des Naturſeins: Sein, Werden, Vergehen, Her- vorbringen, Nähren u. ſ. w. Mit ſolchem Gehalte erfüllt geht der Menſch an die Natur, findet ſie als eine beſtimmte örtliche Umgebung vor. Nun ſcheint es, da er nur von der unbegeiſteten Natur zur Phan- taſiethätigkeit ſollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren abſtracten Mo- menten paſſe dazu, mit den Exiſtenzformen des unbewußten Lebens ſich zu einem Producte der Phantaſie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu- ſammenzuſchmelzen. Allein jede Naturerſcheinung iſt individuell, iſt be- ſtimmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Alſo deckt ſich nicht, was der Geiſt hinzubringt und was ihm die Naturerſcheinung entgegen- bringt; alſo kann die Phantaſie den Gegenſtand nicht innerhalb der be-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0132"n="418"/>
gezählt werden müſſen. Wie ſie ſich zu den Reihen anderer Arten der<lb/>
Phantaſie verhält, davon nachher.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">2. Nun würde, wären wir auf rein äſthetiſchem Boden, nichts<lb/>
folgen, als daß die Phantaſie des Orients vorzüglich darauf angewieſen<lb/>
war, landſchaftliche und thieriſche Schönheit darzuſtellen, denn wenn wir<lb/>
auf jenem Boden uns befänden, ſo gälte es nur, die Erſcheinungen aus<lb/>
dieſer Sphäre der Stoffwelt ſo zu idealiſiren, daß ihre Geſtalt zugleich<lb/>
mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön-<lb/>
heit erhoben würde. Allein wir ſind davon vielmehr ſoweit als möglich<lb/>
noch entfernt und mit einer Phantaſie beſchäftigt, welche in jene ſo be-<lb/>
grenzten Erſcheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee,<lb/>
und daher nichts weniger zu ſchaffen berufen iſt, als landſchaftliche und<lb/>
thieriſche Schönheit im unbefangen äſthetiſchen Sinne. Was iſt denn nun<lb/>
dieß Andere? Wir müſſen zuerſt zurücktreten von der Formthätigkeit der<lb/>
Phantaſie als ſolcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject<lb/>
vorausſetzten, ſo hier Volksgeiſter, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie<lb/>ſie ihn kennen und verſtehen, vorausſetzen. Dazu müſſen wir dann den<lb/>
Dualiſmus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientaliſchen Cha-<lb/>
rakter überhaupt aufſtellten, und zwar von dieſem zunächſt die Seite des<lb/>
brütenden Inſichſeins, der abſtracten Sammlung des Geiſtes. Dieſer<lb/>
Geiſt, der, wenn er ſich auf die Einheit der Dinge beſinnt, die Be-<lb/>ſtimmtheit verliert, wird die abſolute Idee nur wie einen unendli-<lb/>
chen Abgrund ahnen. In dieſen Abgrund verſenkt er, wie die Be-<lb/>ſtimmtheit der Natur, ſo auch die ſittlich menſchliche Beſtimmtheit, was<lb/>
ihm von ihr bekannt iſt, und bekannt iſt ihm das ſittliche Leben nur als<lb/>
ein ſolches, das ſelbſt wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat.<lb/>
Dieſer Abgrund iſt abſtract, aber nicht abſtract im Sinne eines logiſchen<lb/>
Gedankens, ſondern abſtract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin-<lb/>
den, dunkeln unterſcheidungsloſen Macht. Doch die abſtracte Beſinnung<lb/>ſetzt allerdings auch Momente, Unterſchiede; dieſe ſind aber ſelbſt wieder<lb/>
abſtracte Kategorieen des Naturſeins: Sein, Werden, Vergehen, Her-<lb/>
vorbringen, Nähren u. ſ. w. Mit ſolchem Gehalte erfüllt geht der<lb/>
Menſch an die Natur, findet ſie als eine beſtimmte örtliche Umgebung<lb/>
vor. Nun ſcheint es, da er nur von der unbegeiſteten Natur zur Phan-<lb/>
taſiethätigkeit ſollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren abſtracten Mo-<lb/>
menten paſſe dazu, mit den Exiſtenzformen des unbewußten Lebens ſich<lb/>
zu einem Producte der Phantaſie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu-<lb/>ſammenzuſchmelzen. Allein jede Naturerſcheinung iſt individuell, iſt be-<lb/>ſtimmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Alſo deckt ſich nicht,<lb/>
was der Geiſt hinzubringt und was ihm die Naturerſcheinung entgegen-<lb/>
bringt; alſo kann die Phantaſie den Gegenſtand nicht innerhalb der be-<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[418/0132]
gezählt werden müſſen. Wie ſie ſich zu den Reihen anderer Arten der
Phantaſie verhält, davon nachher.
2. Nun würde, wären wir auf rein äſthetiſchem Boden, nichts
folgen, als daß die Phantaſie des Orients vorzüglich darauf angewieſen
war, landſchaftliche und thieriſche Schönheit darzuſtellen, denn wenn wir
auf jenem Boden uns befänden, ſo gälte es nur, die Erſcheinungen aus
dieſer Sphäre der Stoffwelt ſo zu idealiſiren, daß ihre Geſtalt zugleich
mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön-
heit erhoben würde. Allein wir ſind davon vielmehr ſoweit als möglich
noch entfernt und mit einer Phantaſie beſchäftigt, welche in jene ſo be-
grenzten Erſcheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee,
und daher nichts weniger zu ſchaffen berufen iſt, als landſchaftliche und
thieriſche Schönheit im unbefangen äſthetiſchen Sinne. Was iſt denn nun
dieß Andere? Wir müſſen zuerſt zurücktreten von der Formthätigkeit der
Phantaſie als ſolcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject
vorausſetzten, ſo hier Volksgeiſter, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie
ſie ihn kennen und verſtehen, vorausſetzen. Dazu müſſen wir dann den
Dualiſmus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientaliſchen Cha-
rakter überhaupt aufſtellten, und zwar von dieſem zunächſt die Seite des
brütenden Inſichſeins, der abſtracten Sammlung des Geiſtes. Dieſer
Geiſt, der, wenn er ſich auf die Einheit der Dinge beſinnt, die Be-
ſtimmtheit verliert, wird die abſolute Idee nur wie einen unendli-
chen Abgrund ahnen. In dieſen Abgrund verſenkt er, wie die Be-
ſtimmtheit der Natur, ſo auch die ſittlich menſchliche Beſtimmtheit, was
ihm von ihr bekannt iſt, und bekannt iſt ihm das ſittliche Leben nur als
ein ſolches, das ſelbſt wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat.
Dieſer Abgrund iſt abſtract, aber nicht abſtract im Sinne eines logiſchen
Gedankens, ſondern abſtract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin-
den, dunkeln unterſcheidungsloſen Macht. Doch die abſtracte Beſinnung
ſetzt allerdings auch Momente, Unterſchiede; dieſe ſind aber ſelbſt wieder
abſtracte Kategorieen des Naturſeins: Sein, Werden, Vergehen, Her-
vorbringen, Nähren u. ſ. w. Mit ſolchem Gehalte erfüllt geht der
Menſch an die Natur, findet ſie als eine beſtimmte örtliche Umgebung
vor. Nun ſcheint es, da er nur von der unbegeiſteten Natur zur Phan-
taſiethätigkeit ſollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren abſtracten Mo-
menten paſſe dazu, mit den Exiſtenzformen des unbewußten Lebens ſich
zu einem Producte der Phantaſie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu-
ſammenzuſchmelzen. Allein jede Naturerſcheinung iſt individuell, iſt be-
ſtimmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Alſo deckt ſich nicht,
was der Geiſt hinzubringt und was ihm die Naturerſcheinung entgegen-
bringt; alſo kann die Phantaſie den Gegenſtand nicht innerhalb der be-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/132>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.