Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.Zuerst eine vorläufige Bemerkung über die Aufschriften. "Die Phan- Zuerſt eine vorläufige Bemerkung über die Aufſchriften. „Die Phan- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0014" n="300"/> <p> <hi rendition="#et">Zuerſt eine vorläufige Bemerkung über die Aufſchriften. „Die Phan-<lb/> taſie überhaupt“: dieſe Bezeichnung unterſcheidet den Inhalt dieſer erſten<lb/> Abtheilung des zweiten Abſchnitts von der Geſchichte der Phantaſie (oder<lb/> des Ideals), welche den Inhalt der zweiten bildet; ebenſo handelte die<lb/> Abtheilung von der menſchlichen Schönheit zuerſt von derſelben überhaupt,<lb/> dann von der concreten Verſammlung und Bewegung aller ihrer Formen<lb/> in der Geſchichte. Als Unterabtheilung folgt dann: die allgemeine Phan-<lb/> taſie. Darunter verſtehen wir die Phantaſie als Gabe der Menſchheit, der<lb/> Völker überhaupt, welche zwar natürlich einer Entwicklung und Bildung<lb/> bedarf, aber von der beſonderen Begabung oder Fähigkeit, das Schöne<lb/> ſchöpferiſch hervorzubringen, noch wohl zu unterſcheiden iſt. Man kann<lb/> dieſe Phantaſie die paſſive nennen; ſie iſt ein Sinn, das Schöne zu fin-<lb/> den, aber nicht zu erzeugen. Allerdings iſt auch dieſes Finden, wie wir<lb/> nun eben darzuthun haben, ein Erzeugen und nimmermehr blos paſſiv,<lb/> aber verglichen mit der Phantaſie des ſpezifiſch begabten Subjects doch ein<lb/> bloßes Aufnehmen. Sie enthält Alles auch in ſich, was die Phantaſie als<lb/> beſondere Gabe Einzelner enthält, aber in ſtumpferer und ungeſammelter<lb/> Weiſe, und ebendaher freilich auch nicht alle Momente in gleichem Maaße,<lb/> daher wir auch in dieſer Abtheilung dieſe Momente noch nicht zergliedern.<lb/> Es iſt durchaus nothwendig, dieſe allgemeine Form der Phantaſie voran-<lb/> zuſchicken, welche das Schöne nur gelegentlich anſchaut, wo und wann es<lb/> gegeben iſt, in welcher die Acte, die zur freien Erzeugung des Schönen<lb/> gehören, noch nicht in klarer Scheidung hervortreten, dieſe Gabe, das Ur-<lb/> bild der Dinge im Bilde zu ſchauen, die dem Menſchengeſchlechte gemein-<lb/> ſam iſt, weil es ſelbſt in der Mitte und dem Schooße des Alls wurzelt<lb/> und daher einen Blick hat in das Centrum des Lebens, dieſen „tief ver-<lb/> borgenen, allen Menſchen gemeinſchaftlichen Grund der Einhelligkeit in<lb/> Beurtheilung der Formen, unter denen ihnen Gegenſtände gegeben werden“<lb/> (Kant Krit. d. äſth. Urtheilskraft §. 17). Sobald man nämlich ſich darauf<lb/> einläßt, die Phantaſie in ihrem ganzen Thun als beſondere Gabe zu zer-<lb/> gliedern, ſo bewegt man ſich von der Anſchauung auf geradem Wege bis<lb/> zum Ideal, welches dann weiter fort zu ſeiner Verwirklichung in der Kunſt<lb/> drängt; man verläßt alſo Schritt für Schritt den Punkt, wo die Natur<lb/> angeſchaut wird, als wäre das Schöne in ihr wirklich gegeben. Iſt das<lb/> Ideal fertig, ſo iſt keine Täuſchung darüber mehr möglich, wo es zu ſu-<lb/> chen ſey. Dagegen die Phantaſie als allgemeine Gabe bringt es nicht<lb/> zum vollendeten (inneren) Ideale und bleibt dabey ſtehen, das Schöne in<lb/> die Natur hineinzuſchauen; ebendieß aber iſt es ja, was die Lehre von<lb/> der Phantaſie zuerſt zu erklären hat. Es liegt darin eine <hi rendition="#aq">petitio principii:</hi><lb/> wir ſehen Schönes in der Natur weſentlich vermittelſt des Ideals, das<lb/> wir zur Anſchauung mitbringen, und: wir erzeugen das Ideal erſt im<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [300/0014]
Zuerſt eine vorläufige Bemerkung über die Aufſchriften. „Die Phan-
taſie überhaupt“: dieſe Bezeichnung unterſcheidet den Inhalt dieſer erſten
Abtheilung des zweiten Abſchnitts von der Geſchichte der Phantaſie (oder
des Ideals), welche den Inhalt der zweiten bildet; ebenſo handelte die
Abtheilung von der menſchlichen Schönheit zuerſt von derſelben überhaupt,
dann von der concreten Verſammlung und Bewegung aller ihrer Formen
in der Geſchichte. Als Unterabtheilung folgt dann: die allgemeine Phan-
taſie. Darunter verſtehen wir die Phantaſie als Gabe der Menſchheit, der
Völker überhaupt, welche zwar natürlich einer Entwicklung und Bildung
bedarf, aber von der beſonderen Begabung oder Fähigkeit, das Schöne
ſchöpferiſch hervorzubringen, noch wohl zu unterſcheiden iſt. Man kann
dieſe Phantaſie die paſſive nennen; ſie iſt ein Sinn, das Schöne zu fin-
den, aber nicht zu erzeugen. Allerdings iſt auch dieſes Finden, wie wir
nun eben darzuthun haben, ein Erzeugen und nimmermehr blos paſſiv,
aber verglichen mit der Phantaſie des ſpezifiſch begabten Subjects doch ein
bloßes Aufnehmen. Sie enthält Alles auch in ſich, was die Phantaſie als
beſondere Gabe Einzelner enthält, aber in ſtumpferer und ungeſammelter
Weiſe, und ebendaher freilich auch nicht alle Momente in gleichem Maaße,
daher wir auch in dieſer Abtheilung dieſe Momente noch nicht zergliedern.
Es iſt durchaus nothwendig, dieſe allgemeine Form der Phantaſie voran-
zuſchicken, welche das Schöne nur gelegentlich anſchaut, wo und wann es
gegeben iſt, in welcher die Acte, die zur freien Erzeugung des Schönen
gehören, noch nicht in klarer Scheidung hervortreten, dieſe Gabe, das Ur-
bild der Dinge im Bilde zu ſchauen, die dem Menſchengeſchlechte gemein-
ſam iſt, weil es ſelbſt in der Mitte und dem Schooße des Alls wurzelt
und daher einen Blick hat in das Centrum des Lebens, dieſen „tief ver-
borgenen, allen Menſchen gemeinſchaftlichen Grund der Einhelligkeit in
Beurtheilung der Formen, unter denen ihnen Gegenſtände gegeben werden“
(Kant Krit. d. äſth. Urtheilskraft §. 17). Sobald man nämlich ſich darauf
einläßt, die Phantaſie in ihrem ganzen Thun als beſondere Gabe zu zer-
gliedern, ſo bewegt man ſich von der Anſchauung auf geradem Wege bis
zum Ideal, welches dann weiter fort zu ſeiner Verwirklichung in der Kunſt
drängt; man verläßt alſo Schritt für Schritt den Punkt, wo die Natur
angeſchaut wird, als wäre das Schöne in ihr wirklich gegeben. Iſt das
Ideal fertig, ſo iſt keine Täuſchung darüber mehr möglich, wo es zu ſu-
chen ſey. Dagegen die Phantaſie als allgemeine Gabe bringt es nicht
zum vollendeten (inneren) Ideale und bleibt dabey ſtehen, das Schöne in
die Natur hineinzuſchauen; ebendieß aber iſt es ja, was die Lehre von
der Phantaſie zuerſt zu erklären hat. Es liegt darin eine petitio principii:
wir ſehen Schönes in der Natur weſentlich vermittelſt des Ideals, das
wir zur Anſchauung mitbringen, und: wir erzeugen das Ideal erſt im
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