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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Allein das Verändern der Entschlüsse, die Leidenschaft, die Wohnung
im Himmel, die Erscheinung an einem irdischen Ort, das Leben zuerst
ohne Welt, dann nach ihrer Schöpfung mit und neben ihr, das Alles
schließt nothwendig die Kategorie des Zeitlebens und hiemit der Natur ein,
dieß wird wegen des übrigen Fortschritts nur doppelt fühlbar und Strauß hat
daher (Leben Jesu §. 14) zu viel zugegeben, wenn er das Mythische nur auf
der Seite des Weltbewußtseins, des Wunders sucht. Sparsamer aber ist der
mosaische Mythus natürlich, als im Polytheismus, denn da der Gott keine
Götter neben sich hat und absolut sittlicher Wille ist, so kann er nicht von
außen, sondern nur von innen, oder wenigstens nur sofern von außen leiden,
als die neben ihn gesetzten Menschen seine Plane kreuzen. Ein Rest von Na-
turreligion ist aber insbesondere auch der Particularismus. Die Götter der-
selben waren Localgötter; ein Stamm legte in ihnen die Natur seines Wohn-
sitzes, Temperaments, geselligen Zustands nieder dann vereinigten sich diese
örtlichen Geister: das ist ein wesentliches Moment in der Entstehung des Po-
lytheismus. Allein local und in seiner Einzigkeit gerade doppelt local ist
auch der Gott der Juden; sie waren zäh genug, sich allen andern Völ-
kern gegenüberzustellen, ihr Gott, auf den sie so sehr pochten, war diese
Selbständigkeit als Person vorgestellt, und er trat nicht mit andern Göttern
zusammen, weil und wie die Juden sich von allen Völkern trennten.

2. Der unendliche Fortschritt war die sittliche Geistigkeit dieser vor-
gestellten Menschengestalt, aber die Gestalt schloß diesen Gott von der
Welt und die Welt von ihm aus, das war die Stockung im Fortschritt.
Das Sinnliche trennt, schließt aus; reiner Geist kennt keine Schranken,
Geist mit Leib steht gegenüber. Hier kehrt der allgemeine Dualismus des
orientalischen Charakters zurück: statt Götter einander gegenüberzustellen,
wirft er sich auf das Verhältniß Gottes zur Welt, gibt jenem das herbe
Gesetz, dieser den Eigensinn und vereinigt sie äußerlich, juristisch in einem
formellen Rechtsvertrage, statt einzusehen, daß ja die Erfüllung des
Vertrags selbst nur aus dem absolut Guten, aus Gott kommen kann,
also der Vertrag keinen Sinn hat. Dieser Dualismus ist nun allerdings
erhaben und vorzugsweise erhaben, man kann daher diese Religion
allerdings mit Hegel die der Erhabenheit nennen; allein auch hier ist
nicht zu übersehen, daß es ein ächteres Erhabenes gibt: das absolut Er-
habene, das sich einläßt in die Welt als deren tragische Bewegung. Das
kannten die Griechen, nicht die Juden. Diese fixiren das Erhabene des
bloßen Subjects, und zwar auch dieses immer noch unter der Kategorie des
objectiv Erhabenen in räumliche und zeitliche Größe ausgedehnt, in ihrem
Gott. Die Griechen hatten mehr, als Jupiter, sie hatten das Schicksal
als tragischen Conflict, die Juden hatten keine Tragödie, denn ihre Welt
stand starr dem jenseitigen Gott gegenüber.


Vischer's Aesthetik. 2. Band. 29

Allein das Verändern der Entſchlüſſe, die Leidenſchaft, die Wohnung
im Himmel, die Erſcheinung an einem irdiſchen Ort, das Leben zuerſt
ohne Welt, dann nach ihrer Schöpfung mit und neben ihr, das Alles
ſchließt nothwendig die Kategorie des Zeitlebens und hiemit der Natur ein,
dieß wird wegen des übrigen Fortſchritts nur doppelt fühlbar und Strauß hat
daher (Leben Jeſu §. 14) zu viel zugegeben, wenn er das Mythiſche nur auf
der Seite des Weltbewußtſeins, des Wunders ſucht. Sparſamer aber iſt der
moſaiſche Mythus natürlich, als im Polytheiſmus, denn da der Gott keine
Götter neben ſich hat und abſolut ſittlicher Wille iſt, ſo kann er nicht von
außen, ſondern nur von innen, oder wenigſtens nur ſofern von außen leiden,
als die neben ihn geſetzten Menſchen ſeine Plane kreuzen. Ein Reſt von Na-
turreligion iſt aber insbeſondere auch der Particulariſmus. Die Götter der-
ſelben waren Localgötter; ein Stamm legte in ihnen die Natur ſeines Wohn-
ſitzes, Temperaments, geſelligen Zuſtands nieder dann vereinigten ſich dieſe
örtlichen Geiſter: das iſt ein weſentliches Moment in der Entſtehung des Po-
lytheiſmus. Allein local und in ſeiner Einzigkeit gerade doppelt local iſt
auch der Gott der Juden; ſie waren zäh genug, ſich allen andern Völ-
kern gegenüberzuſtellen, ihr Gott, auf den ſie ſo ſehr pochten, war dieſe
Selbſtändigkeit als Perſon vorgeſtellt, und er trat nicht mit andern Göttern
zuſammen, weil und wie die Juden ſich von allen Völkern trennten.

2. Der unendliche Fortſchritt war die ſittliche Geiſtigkeit dieſer vor-
geſtellten Menſchengeſtalt, aber die Geſtalt ſchloß dieſen Gott von der
Welt und die Welt von ihm aus, das war die Stockung im Fortſchritt.
Das Sinnliche trennt, ſchließt aus; reiner Geiſt kennt keine Schranken,
Geiſt mit Leib ſteht gegenüber. Hier kehrt der allgemeine Dualiſmus des
orientaliſchen Charakters zurück: ſtatt Götter einander gegenüberzuſtellen,
wirft er ſich auf das Verhältniß Gottes zur Welt, gibt jenem das herbe
Geſetz, dieſer den Eigenſinn und vereinigt ſie äußerlich, juriſtiſch in einem
formellen Rechtsvertrage, ſtatt einzuſehen, daß ja die Erfüllung des
Vertrags ſelbſt nur aus dem abſolut Guten, aus Gott kommen kann,
alſo der Vertrag keinen Sinn hat. Dieſer Dualiſmus iſt nun allerdings
erhaben und vorzugsweiſe erhaben, man kann daher dieſe Religion
allerdings mit Hegel die der Erhabenheit nennen; allein auch hier iſt
nicht zu überſehen, daß es ein ächteres Erhabenes gibt: das abſolut Er-
habene, das ſich einläßt in die Welt als deren tragiſche Bewegung. Das
kannten die Griechen, nicht die Juden. Dieſe fixiren das Erhabene des
bloßen Subjects, und zwar auch dieſes immer noch unter der Kategorie des
objectiv Erhabenen in räumliche und zeitliche Größe ausgedehnt, in ihrem
Gott. Die Griechen hatten mehr, als Jupiter, ſie hatten das Schickſal
als tragiſchen Conflict, die Juden hatten keine Tragödie, denn ihre Welt
ſtand ſtarr dem jenſeitigen Gott gegenüber.


Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 29
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[443/0157] Allein das Verändern der Entſchlüſſe, die Leidenſchaft, die Wohnung im Himmel, die Erſcheinung an einem irdiſchen Ort, das Leben zuerſt ohne Welt, dann nach ihrer Schöpfung mit und neben ihr, das Alles ſchließt nothwendig die Kategorie des Zeitlebens und hiemit der Natur ein, dieß wird wegen des übrigen Fortſchritts nur doppelt fühlbar und Strauß hat daher (Leben Jeſu §. 14) zu viel zugegeben, wenn er das Mythiſche nur auf der Seite des Weltbewußtſeins, des Wunders ſucht. Sparſamer aber iſt der moſaiſche Mythus natürlich, als im Polytheiſmus, denn da der Gott keine Götter neben ſich hat und abſolut ſittlicher Wille iſt, ſo kann er nicht von außen, ſondern nur von innen, oder wenigſtens nur ſofern von außen leiden, als die neben ihn geſetzten Menſchen ſeine Plane kreuzen. Ein Reſt von Na- turreligion iſt aber insbeſondere auch der Particulariſmus. Die Götter der- ſelben waren Localgötter; ein Stamm legte in ihnen die Natur ſeines Wohn- ſitzes, Temperaments, geſelligen Zuſtands nieder dann vereinigten ſich dieſe örtlichen Geiſter: das iſt ein weſentliches Moment in der Entſtehung des Po- lytheiſmus. Allein local und in ſeiner Einzigkeit gerade doppelt local iſt auch der Gott der Juden; ſie waren zäh genug, ſich allen andern Völ- kern gegenüberzuſtellen, ihr Gott, auf den ſie ſo ſehr pochten, war dieſe Selbſtändigkeit als Perſon vorgeſtellt, und er trat nicht mit andern Göttern zuſammen, weil und wie die Juden ſich von allen Völkern trennten. 2. Der unendliche Fortſchritt war die ſittliche Geiſtigkeit dieſer vor- geſtellten Menſchengeſtalt, aber die Geſtalt ſchloß dieſen Gott von der Welt und die Welt von ihm aus, das war die Stockung im Fortſchritt. Das Sinnliche trennt, ſchließt aus; reiner Geiſt kennt keine Schranken, Geiſt mit Leib ſteht gegenüber. Hier kehrt der allgemeine Dualiſmus des orientaliſchen Charakters zurück: ſtatt Götter einander gegenüberzuſtellen, wirft er ſich auf das Verhältniß Gottes zur Welt, gibt jenem das herbe Geſetz, dieſer den Eigenſinn und vereinigt ſie äußerlich, juriſtiſch in einem formellen Rechtsvertrage, ſtatt einzuſehen, daß ja die Erfüllung des Vertrags ſelbſt nur aus dem abſolut Guten, aus Gott kommen kann, alſo der Vertrag keinen Sinn hat. Dieſer Dualiſmus iſt nun allerdings erhaben und vorzugsweiſe erhaben, man kann daher dieſe Religion allerdings mit Hegel die der Erhabenheit nennen; allein auch hier iſt nicht zu überſehen, daß es ein ächteres Erhabenes gibt: das abſolut Er- habene, das ſich einläßt in die Welt als deren tragiſche Bewegung. Das kannten die Griechen, nicht die Juden. Dieſe fixiren das Erhabene des bloßen Subjects, und zwar auch dieſes immer noch unter der Kategorie des objectiv Erhabenen in räumliche und zeitliche Größe ausgedehnt, in ihrem Gott. Die Griechen hatten mehr, als Jupiter, ſie hatten das Schickſal als tragiſchen Conflict, die Juden hatten keine Tragödie, denn ihre Welt ſtand ſtarr dem jenſeitigen Gott gegenüber. Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 29

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/157>, abgerufen am 24.11.2024.