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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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3. Allerdings ist nun die hebräische Phantasie auf den Boden der
menschlichen Schönheit getreten, ihr Gott ist ein Riese mit wallendem
Mantel auf dem Sinai, und der Mensch ist persönlich geworden, ein
würdiger Stoff der Phantasie, allein jene Vorstellung bleibt im Gefühl,
daß sie inconsequent sei, schwebend, unbestimmt, am Menschen aber be-
schäftigt nur das innere Leben, das ringende Herz und es folgt schon daraus,
noch mehr aus dem Verbot der Abbildung Gottes, daß diese Phantasie
nicht mehr die bildende sein kann. Sie ist vielmehr empfindende (§. 404),
oder, da sie vermöge ihrer geistigen Bewegtheit namentlich auch als dich-
tende auftreten wird, empfindend dichtende (lyrische). Diese Form tritt
nun freilich auch in den andern orientalischen Religionen auf; das Hym-
nische ist in ihnen ein starker Bestandtheil, doch keineswegs die Hauptform.
Bei den durchgängig subjectiveren semitischen Völkern tritt sie aber mehr und
mehr in den Vordergrund, namentlich in dem berühmten Klaggesang über
den Tod des Adonis (Osiris: Maneros), und bei den Juden wird sie
zur spezifischen Form, worin die Phantasie ihren entsprechendsten Ausdruck
findet. Das menschliche Gemüth ringt hinauf zu dem fernen Schöpfer
und Gesetzgeber, es preist seine Herrlichkeit, es seufzt im ganzen Schmerz
der gefühlten dualistischen Spannung, desto tiefer gebrochen, je härter
sein durch das Gesetz gespannter Eigensinn ist, aus seinen Tiefen zu ihm,
es hofft auf Erlösung, es ist durch den ganzen Widerspruch dieser Reli-
gion auf die Zukunft gestellt. Diese Bewegung des inneren Menschen ist
das eigentliche Gebiet dieser ganz subjectiven Phantasie. Hat sie aber
nicht durch die Entgötterung der Welt die ursprüngliche Stoffwelt ge-
wonnen, so daß sie nun hier den aufgegangenen Sinn für menschliche
Schönheit entfalten könnte? Die hebräische Phantasie ergreift allerdings
den Stoff der wirklichen Menschenwelt, sie hat ihre Sage, wie ihren
Mythus, sie hat eine Verbindung beider. Sie hat die Begründer des
Zustands der Nation, Patriarchen, Gesetzgeber, Propheten, Helden, Könige in
der Ueberlieferung erhöht und eine Menge wahrhaft schöner, rein menschlicher
Züge bewahrt; allein die wahre Idealität erreichen auch bei ihr die mensch-
lichen Gestalten nur durch unmittelbares Hineinrücken in das Absolute.

4. Dieses Hineinrücken aber muß ein anderes sein in der hebräischen,
als in den bisherigen Formen der orientalischen Phantasie; es tritt, wie
Hegel gezeigt, hier zunächst der Begriff des Wunders in seine volle
Bedeutung ein. Das Causalitätsgesetz, der Zusammenhang des Weltver-
laufs ist anerkannt; es gibt eine Geschichte. Die absolute Ursache aber,
deren Wirklichkeit nirgends anders sein kann, als in der Gesammtheit der
relativen Ursachen, ist als einzelne Person in einen vorgestellten jenseitigen
Raum hinübergeworfen. Soll also die Erscheinung einer bestimmten Idee
idealisirt werden, so muß sich jene erst ein Loch in die Welt machen. Alle

3. Allerdings iſt nun die hebräiſche Phantaſie auf den Boden der
menſchlichen Schönheit getreten, ihr Gott iſt ein Rieſe mit wallendem
Mantel auf dem Sinai, und der Menſch iſt perſönlich geworden, ein
würdiger Stoff der Phantaſie, allein jene Vorſtellung bleibt im Gefühl,
daß ſie inconſequent ſei, ſchwebend, unbeſtimmt, am Menſchen aber be-
ſchäftigt nur das innere Leben, das ringende Herz und es folgt ſchon daraus,
noch mehr aus dem Verbot der Abbildung Gottes, daß dieſe Phantaſie
nicht mehr die bildende ſein kann. Sie iſt vielmehr empfindende (§. 404),
oder, da ſie vermöge ihrer geiſtigen Bewegtheit namentlich auch als dich-
tende auftreten wird, empfindend dichtende (lyriſche). Dieſe Form tritt
nun freilich auch in den andern orientaliſchen Religionen auf; das Hym-
niſche iſt in ihnen ein ſtarker Beſtandtheil, doch keineswegs die Hauptform.
Bei den durchgängig ſubjectiveren ſemitiſchen Völkern tritt ſie aber mehr und
mehr in den Vordergrund, namentlich in dem berühmten Klaggeſang über
den Tod des Adonis (Oſiris: Manerôs), und bei den Juden wird ſie
zur ſpezifiſchen Form, worin die Phantaſie ihren entſprechendſten Ausdruck
findet. Das menſchliche Gemüth ringt hinauf zu dem fernen Schöpfer
und Geſetzgeber, es preist ſeine Herrlichkeit, es ſeufzt im ganzen Schmerz
der gefühlten dualiſtiſchen Spannung, deſto tiefer gebrochen, je härter
ſein durch das Geſetz geſpannter Eigenſinn iſt, aus ſeinen Tiefen zu ihm,
es hofft auf Erlöſung, es iſt durch den ganzen Widerſpruch dieſer Reli-
gion auf die Zukunft geſtellt. Dieſe Bewegung des inneren Menſchen iſt
das eigentliche Gebiet dieſer ganz ſubjectiven Phantaſie. Hat ſie aber
nicht durch die Entgötterung der Welt die urſprüngliche Stoffwelt ge-
wonnen, ſo daß ſie nun hier den aufgegangenen Sinn für menſchliche
Schönheit entfalten könnte? Die hebräiſche Phantaſie ergreift allerdings
den Stoff der wirklichen Menſchenwelt, ſie hat ihre Sage, wie ihren
Mythus, ſie hat eine Verbindung beider. Sie hat die Begründer des
Zuſtands der Nation, Patriarchen, Geſetzgeber, Propheten, Helden, Könige in
der Ueberlieferung erhöht und eine Menge wahrhaft ſchöner, rein menſchlicher
Züge bewahrt; allein die wahre Idealität erreichen auch bei ihr die menſch-
lichen Geſtalten nur durch unmittelbares Hineinrücken in das Abſolute.

4. Dieſes Hineinrücken aber muß ein anderes ſein in der hebräiſchen,
als in den bisherigen Formen der orientaliſchen Phantaſie; es tritt, wie
Hegel gezeigt, hier zunächſt der Begriff des Wunders in ſeine volle
Bedeutung ein. Das Cauſalitätsgeſetz, der Zuſammenhang des Weltver-
laufs iſt anerkannt; es gibt eine Geſchichte. Die abſolute Urſache aber,
deren Wirklichkeit nirgends anders ſein kann, als in der Geſammtheit der
relativen Urſachen, iſt als einzelne Perſon in einen vorgeſtellten jenſeitigen
Raum hinübergeworfen. Soll alſo die Erſcheinung einer beſtimmten Idee
idealiſirt werden, ſo muß ſich jene erſt ein Loch in die Welt machen. Alle

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[444/0158] 3. Allerdings iſt nun die hebräiſche Phantaſie auf den Boden der menſchlichen Schönheit getreten, ihr Gott iſt ein Rieſe mit wallendem Mantel auf dem Sinai, und der Menſch iſt perſönlich geworden, ein würdiger Stoff der Phantaſie, allein jene Vorſtellung bleibt im Gefühl, daß ſie inconſequent ſei, ſchwebend, unbeſtimmt, am Menſchen aber be- ſchäftigt nur das innere Leben, das ringende Herz und es folgt ſchon daraus, noch mehr aus dem Verbot der Abbildung Gottes, daß dieſe Phantaſie nicht mehr die bildende ſein kann. Sie iſt vielmehr empfindende (§. 404), oder, da ſie vermöge ihrer geiſtigen Bewegtheit namentlich auch als dich- tende auftreten wird, empfindend dichtende (lyriſche). Dieſe Form tritt nun freilich auch in den andern orientaliſchen Religionen auf; das Hym- niſche iſt in ihnen ein ſtarker Beſtandtheil, doch keineswegs die Hauptform. Bei den durchgängig ſubjectiveren ſemitiſchen Völkern tritt ſie aber mehr und mehr in den Vordergrund, namentlich in dem berühmten Klaggeſang über den Tod des Adonis (Oſiris: Manerôs), und bei den Juden wird ſie zur ſpezifiſchen Form, worin die Phantaſie ihren entſprechendſten Ausdruck findet. Das menſchliche Gemüth ringt hinauf zu dem fernen Schöpfer und Geſetzgeber, es preist ſeine Herrlichkeit, es ſeufzt im ganzen Schmerz der gefühlten dualiſtiſchen Spannung, deſto tiefer gebrochen, je härter ſein durch das Geſetz geſpannter Eigenſinn iſt, aus ſeinen Tiefen zu ihm, es hofft auf Erlöſung, es iſt durch den ganzen Widerſpruch dieſer Reli- gion auf die Zukunft geſtellt. Dieſe Bewegung des inneren Menſchen iſt das eigentliche Gebiet dieſer ganz ſubjectiven Phantaſie. Hat ſie aber nicht durch die Entgötterung der Welt die urſprüngliche Stoffwelt ge- wonnen, ſo daß ſie nun hier den aufgegangenen Sinn für menſchliche Schönheit entfalten könnte? Die hebräiſche Phantaſie ergreift allerdings den Stoff der wirklichen Menſchenwelt, ſie hat ihre Sage, wie ihren Mythus, ſie hat eine Verbindung beider. Sie hat die Begründer des Zuſtands der Nation, Patriarchen, Geſetzgeber, Propheten, Helden, Könige in der Ueberlieferung erhöht und eine Menge wahrhaft ſchöner, rein menſchlicher Züge bewahrt; allein die wahre Idealität erreichen auch bei ihr die menſch- lichen Geſtalten nur durch unmittelbares Hineinrücken in das Abſolute. 4. Dieſes Hineinrücken aber muß ein anderes ſein in der hebräiſchen, als in den bisherigen Formen der orientaliſchen Phantaſie; es tritt, wie Hegel gezeigt, hier zunächſt der Begriff des Wunders in ſeine volle Bedeutung ein. Das Cauſalitätsgeſetz, der Zuſammenhang des Weltver- laufs iſt anerkannt; es gibt eine Geſchichte. Die abſolute Urſache aber, deren Wirklichkeit nirgends anders ſein kann, als in der Geſammtheit der relativen Urſachen, iſt als einzelne Perſon in einen vorgeſtellten jenſeitigen Raum hinübergeworfen. Soll alſo die Erſcheinung einer beſtimmten Idee idealiſirt werden, ſo muß ſich jene erſt ein Loch in die Welt machen. Alle

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/158>, abgerufen am 24.11.2024.