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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Religionen haben, wie gezeigt, diese Durchlöcherung, sie schieben die ab-
solute Ursache und die Vermittlung der einzelnen Ursachen nebeneinander,
springen von dieser auf jene über, dann in diese zurück, aber in den bisher
betrachteten ist über diese Sprünge nichts zu verwundern; sie sind so sehr der
eigentliche Standpunkt, daß es zu einer Anerkennung des Weltzusammen-
hangs und seiner Ordnung gar nicht kommt. Wo aber diese im Uebrigen da
ist, da tritt der Widerspruch eines Geschehens in der Natur gegen die Ge-
setze der Natur an Tag, d. h. nicht als solcher in's Bewußtsein, sondern
er tritt als Verwunderung in's Gefühl. So wird die Sage, indem sie durch-
gängig mit dem Mythus sich vermischt, hier zur Wundergeschichte. Man sieht
nun, in welchem Sinne die ursprüngliche Stoffwelt der Phantasie wieder-
gegeben ist: im beschränkten Sinne eines Hinüberbeziehens auf Jehovah.
So geht ihr denn zuerst der landschaftliche Sinn in ganz anderer Weise
auf, als wir ihn von den anderen Naturreligionen aussagen konnten,
denn diese vergötterten nur Theile derselben in symbolischem Sinne, den
Hebräern aber geht der Sinn für ihre Schönheit auf, sie beginnen sie
ästhetisch zu betrachten, doch wieder nicht rein ästhetisch, denn statt unbe-
fangen die Empfindungen des menschlichen Gemüths in sie zu legen, legen
sie dieselbe als Prachtgewand, als Ehrenteppich und Schemel ihrem Gott
zu Füssen; da ist sie nicht selbständiges ästhetisches Ganzes. Der Phan-
tasie menschlicher Schönheit ist neben dem vorgestellten Leibe Gottes die
Schönheit der wirklichen Menschenwelt aufgegangen; die Sage muß daher
auch zu der bildenden Form der dichtenden Phantasie (der epischen) grei-
fen; diese hatten auch die andern Orientalen, aber man erwartet eine reifere
Ausbildung derselben von den Hebräern, und doch hat ihr Geist innerhalb
dieser Form wieder die Ruhe nicht, bei einer geschlossenen Welt zu verwei-
len, er eilt auf die Momente des Wunders los und außer den Organen
der Offenbarung erscheinen die übrigen Menschen als gedrückte und zu-
gleich hartnäckige Knechte des Herrn; die Spannung des ganzen Stand-
punktes bringt eine Bewegtheit in die gesammte Darstellung, welche durch
directe Ausströmung des Innern wieder zur empfindenden Phantasie, sogar
zu Anklängen der dramatischen sich wendet, denen jedoch, wie schon ge-
sagt, die rechte Grundlage einer abgeschlossenen, tragischen Bewegung
fehlt (Hiob).


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Religionen haben, wie gezeigt, dieſe Durchlöcherung, ſie ſchieben die ab-
ſolute Urſache und die Vermittlung der einzelnen Urſachen nebeneinander,
ſpringen von dieſer auf jene über, dann in dieſe zurück, aber in den bisher
betrachteten iſt über dieſe Sprünge nichts zu verwundern; ſie ſind ſo ſehr der
eigentliche Standpunkt, daß es zu einer Anerkennung des Weltzuſammen-
hangs und ſeiner Ordnung gar nicht kommt. Wo aber dieſe im Uebrigen da
iſt, da tritt der Widerſpruch eines Geſchehens in der Natur gegen die Ge-
ſetze der Natur an Tag, d. h. nicht als ſolcher in’s Bewußtſein, ſondern
er tritt als Verwunderung in’s Gefühl. So wird die Sage, indem ſie durch-
gängig mit dem Mythus ſich vermiſcht, hier zur Wundergeſchichte. Man ſieht
nun, in welchem Sinne die urſprüngliche Stoffwelt der Phantaſie wieder-
gegeben iſt: im beſchränkten Sinne eines Hinüberbeziehens auf Jehovah.
So geht ihr denn zuerſt der landſchaftliche Sinn in ganz anderer Weiſe
auf, als wir ihn von den anderen Naturreligionen ausſagen konnten,
denn dieſe vergötterten nur Theile derſelben in ſymboliſchem Sinne, den
Hebräern aber geht der Sinn für ihre Schönheit auf, ſie beginnen ſie
äſthetiſch zu betrachten, doch wieder nicht rein äſthetiſch, denn ſtatt unbe-
fangen die Empfindungen des menſchlichen Gemüths in ſie zu legen, legen
ſie dieſelbe als Prachtgewand, als Ehrenteppich und Schemel ihrem Gott
zu Füſſen; da iſt ſie nicht ſelbſtändiges äſthetiſches Ganzes. Der Phan-
taſie menſchlicher Schönheit iſt neben dem vorgeſtellten Leibe Gottes die
Schönheit der wirklichen Menſchenwelt aufgegangen; die Sage muß daher
auch zu der bildenden Form der dichtenden Phantaſie (der epiſchen) grei-
fen; dieſe hatten auch die andern Orientalen, aber man erwartet eine reifere
Ausbildung derſelben von den Hebräern, und doch hat ihr Geiſt innerhalb
dieſer Form wieder die Ruhe nicht, bei einer geſchloſſenen Welt zu verwei-
len, er eilt auf die Momente des Wunders los und außer den Organen
der Offenbarung erſcheinen die übrigen Menſchen als gedrückte und zu-
gleich hartnäckige Knechte des Herrn; die Spannung des ganzen Stand-
punktes bringt eine Bewegtheit in die geſammte Darſtellung, welche durch
directe Ausſtrömung des Innern wieder zur empfindenden Phantaſie, ſogar
zu Anklängen der dramatiſchen ſich wendet, denen jedoch, wie ſchon ge-
ſagt, die rechte Grundlage einer abgeſchloſſenen, tragiſchen Bewegung
fehlt (Hiob).


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[445/0159] Religionen haben, wie gezeigt, dieſe Durchlöcherung, ſie ſchieben die ab- ſolute Urſache und die Vermittlung der einzelnen Urſachen nebeneinander, ſpringen von dieſer auf jene über, dann in dieſe zurück, aber in den bisher betrachteten iſt über dieſe Sprünge nichts zu verwundern; ſie ſind ſo ſehr der eigentliche Standpunkt, daß es zu einer Anerkennung des Weltzuſammen- hangs und ſeiner Ordnung gar nicht kommt. Wo aber dieſe im Uebrigen da iſt, da tritt der Widerſpruch eines Geſchehens in der Natur gegen die Ge- ſetze der Natur an Tag, d. h. nicht als ſolcher in’s Bewußtſein, ſondern er tritt als Verwunderung in’s Gefühl. So wird die Sage, indem ſie durch- gängig mit dem Mythus ſich vermiſcht, hier zur Wundergeſchichte. Man ſieht nun, in welchem Sinne die urſprüngliche Stoffwelt der Phantaſie wieder- gegeben iſt: im beſchränkten Sinne eines Hinüberbeziehens auf Jehovah. So geht ihr denn zuerſt der landſchaftliche Sinn in ganz anderer Weiſe auf, als wir ihn von den anderen Naturreligionen ausſagen konnten, denn dieſe vergötterten nur Theile derſelben in ſymboliſchem Sinne, den Hebräern aber geht der Sinn für ihre Schönheit auf, ſie beginnen ſie äſthetiſch zu betrachten, doch wieder nicht rein äſthetiſch, denn ſtatt unbe- fangen die Empfindungen des menſchlichen Gemüths in ſie zu legen, legen ſie dieſelbe als Prachtgewand, als Ehrenteppich und Schemel ihrem Gott zu Füſſen; da iſt ſie nicht ſelbſtändiges äſthetiſches Ganzes. Der Phan- taſie menſchlicher Schönheit iſt neben dem vorgeſtellten Leibe Gottes die Schönheit der wirklichen Menſchenwelt aufgegangen; die Sage muß daher auch zu der bildenden Form der dichtenden Phantaſie (der epiſchen) grei- fen; dieſe hatten auch die andern Orientalen, aber man erwartet eine reifere Ausbildung derſelben von den Hebräern, und doch hat ihr Geiſt innerhalb dieſer Form wieder die Ruhe nicht, bei einer geſchloſſenen Welt zu verwei- len, er eilt auf die Momente des Wunders los und außer den Organen der Offenbarung erſcheinen die übrigen Menſchen als gedrückte und zu- gleich hartnäckige Knechte des Herrn; die Spannung des ganzen Stand- punktes bringt eine Bewegtheit in die geſammte Darſtellung, welche durch directe Ausſtrömung des Innern wieder zur empfindenden Phantaſie, ſogar zu Anklängen der dramatiſchen ſich wendet, denen jedoch, wie ſchon ge- ſagt, die rechte Grundlage einer abgeſchloſſenen, tragiſchen Bewegung fehlt (Hiob). 29*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/159>, abgerufen am 09.11.2024.