Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
Geist ist Poseidon. Der Gott ist nicht eine Devise, auf eine Lebenssphäre 2. Was die Ueberwindung der symbolischen Naturreligion überhaupt,
Geiſt iſt Poſeidon. Der Gott iſt nicht eine Deviſe, auf eine Lebensſphäre 2. Was die Ueberwindung der ſymboliſchen Naturreligion überhaupt, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0161" n="447"/> Geiſt iſt Poſeidon. Der Gott iſt nicht eine Deviſe, auf eine Lebensſphäre<lb/> geklebt, ſondern jener Genius mit Menſchengeſtalt, den ſchon der Orient<lb/> in der Naturerſcheinung ahnte, aber wie einen unreifen Kern aus harter<lb/> Schaale nicht herausſchälen konnte, ohne ihn zu zerſtückeln und mit Trüm-<lb/> mern der Schaale nothdürftig wieder zuſammenzukleben, löst ſich heraus,<lb/> der Gott ſteht auf den Füßen und fragt nicht mehr nach ſeiner Herkunft.<lb/> Er deutet ſich ſelbſt, er iſt, was er bedeutet, er will es, es iſt ſeine Lei-<lb/> denſchaft, ſein Zweck. Sein Hauptzweck iſt irgend ein ſittliches Pathos,<lb/> Eid, Gaſtfreundſchaft, Civiliſation, Städte- und Staatengründung, Ver-<lb/> kehr, Handel, Wiſſen, Kunſt; er umfaßt aber deren mehrere, wie Apollo<lb/> Wiſſen der Zukunft, Wiſſen um Geheimniſſe der Erkenntniß überhaupt,<lb/> Geſang und Muſik, Offenbarung und Beſtrafung verborgener Verbrechen,<lb/> Zeus Gaſtfreundſchaft, Eid, Vertrag u. ſ. w., und ſchon dadurch iſt von<lb/> der Abſtraction einer ſymboliſchen Bedeutung die Erweiterung zu einem<lb/> ganzen und vollen Subjecte gegeben. Allein dieſen Hauptzweck hat ihm<lb/> das Volksbewußtſein darum geliehen, weil es ſelbſt ſittlich iſt; weil es ſitt-<lb/> lich iſt, iſt es perſönlich und weil es perſönlich iſt, hat es überhaupt den gan-<lb/> zen Gott als lebendige Perſönlichkeit erdichtet, und ſo hat dieſer Gott alle<lb/> Zwecke und Bewegungen eines ganzen Menſchen. Er kann Alles empfinden,<lb/> Alles denken, wollen, alſo auch das, was Hauptzweck anderer Götter iſt, nur<lb/> daß der ſeinige immer ſein Kern bleibt und ſeine ganze Temperatur beſtimmt.<lb/> Dieſe Temperatur rührt allerdings zunächſt von der Naturgrundlage: der<lb/> unruhige und wilde Poſeidon hat die Stimmung ſeines Elements, dann aber<lb/> erſcheint er leidenſchaftlich bewegt in Intereſſen der Städtegründung u. ſ. w.<lb/> Dieſelbe Naturgrundlage ſetzt ſich auch in den Mythus ſo fort, daß die<lb/> Götter nicht nur handeln, ſondern auch unter dem Geſetze des Werdens<lb/> ſtehen, geboren werden, wachſen, leiden, und zwar anders, als Jehovah,<lb/> von außen nämlich durch andere Götter, durch Menſchen ſelbſt bis zur<lb/> körperlichen Verwundung. Dieſe Nachwirkung des Symboliſchen im My-<lb/> thiſchen hebt ſich aber, wie wir ſehen werden, in der kummerloſen Selig-<lb/> keit des Ideals wieder auf. Die gröbere Paſſivität jedoch, deren Symbolik<lb/> auch in mythiſcher Behandlung abſtoßend bleibt, wie die Verſtümmlungen,<lb/> das Verſchlungenwerden u. dergl., wird in die Theogonie zurückverlegt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Was die Ueberwindung der ſymboliſchen Naturreligion überhaupt,<lb/> die Aufhebung und den Nachklang derſelben in dieſe ethiſche Phantaſie<lb/> betrifft, ſo dürfen wir auf Hegel verweiſen, der „den Geſtaltungsprozeß<lb/> der claſſiſchen Kunſtform“ ſo weitläufig behandelt hat (Aeſth. Th. 2,<lb/> S. 24—66). Er zeigt zuerſt die Degradation des Thieriſchen auf, dann<lb/> wie die Aufhebung der Naturreligion und ihrer hundertarmigen, ſchlan-<lb/> genfüßigen Ungeheuer ſelbſt wieder mythiſch als ein Kampf der geiſtigen<lb/> und ſittlichen Götter gegen die finſtern Naturmächte in die Vergangenheit<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [447/0161]
Geiſt iſt Poſeidon. Der Gott iſt nicht eine Deviſe, auf eine Lebensſphäre
geklebt, ſondern jener Genius mit Menſchengeſtalt, den ſchon der Orient
in der Naturerſcheinung ahnte, aber wie einen unreifen Kern aus harter
Schaale nicht herausſchälen konnte, ohne ihn zu zerſtückeln und mit Trüm-
mern der Schaale nothdürftig wieder zuſammenzukleben, löst ſich heraus,
der Gott ſteht auf den Füßen und fragt nicht mehr nach ſeiner Herkunft.
Er deutet ſich ſelbſt, er iſt, was er bedeutet, er will es, es iſt ſeine Lei-
denſchaft, ſein Zweck. Sein Hauptzweck iſt irgend ein ſittliches Pathos,
Eid, Gaſtfreundſchaft, Civiliſation, Städte- und Staatengründung, Ver-
kehr, Handel, Wiſſen, Kunſt; er umfaßt aber deren mehrere, wie Apollo
Wiſſen der Zukunft, Wiſſen um Geheimniſſe der Erkenntniß überhaupt,
Geſang und Muſik, Offenbarung und Beſtrafung verborgener Verbrechen,
Zeus Gaſtfreundſchaft, Eid, Vertrag u. ſ. w., und ſchon dadurch iſt von
der Abſtraction einer ſymboliſchen Bedeutung die Erweiterung zu einem
ganzen und vollen Subjecte gegeben. Allein dieſen Hauptzweck hat ihm
das Volksbewußtſein darum geliehen, weil es ſelbſt ſittlich iſt; weil es ſitt-
lich iſt, iſt es perſönlich und weil es perſönlich iſt, hat es überhaupt den gan-
zen Gott als lebendige Perſönlichkeit erdichtet, und ſo hat dieſer Gott alle
Zwecke und Bewegungen eines ganzen Menſchen. Er kann Alles empfinden,
Alles denken, wollen, alſo auch das, was Hauptzweck anderer Götter iſt, nur
daß der ſeinige immer ſein Kern bleibt und ſeine ganze Temperatur beſtimmt.
Dieſe Temperatur rührt allerdings zunächſt von der Naturgrundlage: der
unruhige und wilde Poſeidon hat die Stimmung ſeines Elements, dann aber
erſcheint er leidenſchaftlich bewegt in Intereſſen der Städtegründung u. ſ. w.
Dieſelbe Naturgrundlage ſetzt ſich auch in den Mythus ſo fort, daß die
Götter nicht nur handeln, ſondern auch unter dem Geſetze des Werdens
ſtehen, geboren werden, wachſen, leiden, und zwar anders, als Jehovah,
von außen nämlich durch andere Götter, durch Menſchen ſelbſt bis zur
körperlichen Verwundung. Dieſe Nachwirkung des Symboliſchen im My-
thiſchen hebt ſich aber, wie wir ſehen werden, in der kummerloſen Selig-
keit des Ideals wieder auf. Die gröbere Paſſivität jedoch, deren Symbolik
auch in mythiſcher Behandlung abſtoßend bleibt, wie die Verſtümmlungen,
das Verſchlungenwerden u. dergl., wird in die Theogonie zurückverlegt.
2. Was die Ueberwindung der ſymboliſchen Naturreligion überhaupt,
die Aufhebung und den Nachklang derſelben in dieſe ethiſche Phantaſie
betrifft, ſo dürfen wir auf Hegel verweiſen, der „den Geſtaltungsprozeß
der claſſiſchen Kunſtform“ ſo weitläufig behandelt hat (Aeſth. Th. 2,
S. 24—66). Er zeigt zuerſt die Degradation des Thieriſchen auf, dann
wie die Aufhebung der Naturreligion und ihrer hundertarmigen, ſchlan-
genfüßigen Ungeheuer ſelbſt wieder mythiſch als ein Kampf der geiſtigen
und ſittlichen Götter gegen die finſtern Naturmächte in die Vergangenheit
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