Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
verlegt wird, ferner den Nachklang des überwundenen Ausgangspunkts
verlegt wird, ferner den Nachklang des überwundenen Ausgangspunkts <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0162" n="448"/> verlegt wird, ferner den Nachklang des überwundenen Ausgangspunkts<lb/> in den Myſterien als eſoteriſch gewordenen, durch ihr geheimnißvolles<lb/> Dunkel den Geiſt befangenden Culten ſymboliſcher Art, in der Aufbewah-<lb/> rung der alten Götter in der Kunſtdarſtellung, endlich in Allem dem, was<lb/> in der Darſtellung der neuen Götter an ihre Naturgrundlage mahnt.<lb/> Wir haben bereits von der individuellen Stimmung geſprochen, die ſich<lb/> als Reminiſcenz der Naturbedeutung in die Perſönlichkeit des Gottes fort-<lb/> ſetzt: die Naturgrundlage wird Naturell. Sie ſetzt ſich ebenſo, wie wir<lb/> ſahen, als Begebenheit in den Mythus fort. Hier nun zeigen die Grie-<lb/> chen ihre ganze Liebenswürdigkeit; es iſt ihr unendlicher Fortſchritt, daß<lb/> ſie den geiſtreichen Leichtſinn hatten, aus ſymboliſchen Acten Geſchichtchen<lb/> zu machen und den Grund, die urſprüngliche Bedeutung, zu <hi rendition="#g">vergeſſen</hi>.<lb/> Die Bedeutung iſt zum lebendigen Intereſſe des Gottes geworden, er fragt<lb/> nichts mehr nach ihr als bloßer Bedeutung. Die Metamorphoſen, die Liebesge-<lb/> ſchichten des Zeus ſind das beſte Beiſpiel. Verfeſtigt ſich nun die Perſönlich-<lb/> keit des Gottes in der Phantaſie zu beſtimmterer Geſtalt, ſo finden ſich nur<lb/> wenige Reſte ſymboliſch roher Bildung, wie die Epheſiſche Diana, die<lb/> priapiſchen Naturgötter, Ungethüme wie die Harpyien u. ſ. w. In einigen<lb/> verbeſſert der Schönheitsſinn die Zuſammenſetzung des Menſchlichen und<lb/> Thieriſchen, wie in den Faunen und Centauren. Weſentlich aber iſt, daß<lb/> das Symbol als <hi rendition="#g">Attribut</hi>, als thieriſcher Begleiter, als Waffe u. ſ. w.<lb/><hi rendition="#g">neben</hi> die Geſtalt tritt, dienendes Mittel demſelben wird; ſo der Adler<lb/> des Zeus, der Panther des Bacchus, der Delphin der Aphrodite, ſo der Kö-<lb/> cher des Apollo und der Diana, der an Sonnen- und Mondesſtrahlen erinnert,<lb/> der Donnerkeil des Zeus, der Dreizack des Poſeidon. Endlich aber ſetzt ſich<lb/> der ſymboliſche Nachklang in die Geſtalt ſelbſt fort und ſo, daß er das<lb/> Motiv zu einer Schönheit wird, entweder als unmittelbarer mit ihr ver-<lb/> bundene Zierde, wie der Halbmond der Diana, die Epheu- und Trau-<lb/> benguirlanden, die volleren Haarknoten, die man dem Bacchus gab, um<lb/> die ſymboliſchen Stierhörner der älteſten Darſtellung zu verbergen — wie<lb/> denn das Haar überhaupt und ſeine Behandlung, z. B. die ungeord-<lb/> neteren Jupiter-Locken des Poſeidon, beſonders ſymboliſchen Nachklang<lb/> zeigt — oder als Haltung und Charakter der Geſtalt ſelbſt und einzel-<lb/> ner Organe. So war Diana zunächſt Mondsgöttin; die ahnungsvolle<lb/> Wirkung der irrenden Mondſtrahlen in Wald-Einſamkeit mochte Anlaß<lb/> ſein, ein anderes Weſen, einen Waldgeiſt, eine Göttin des Waldes und<lb/> Wilds mit ihr zu vereinigen; in der griechiſchen Phantaſie wird nun ſo<lb/> das Schlüpfende der Mondbeleuchtung, das Säuſeln, Raſcheln, Hallen<lb/> und Wiederhallen im Wald zum Bilde der ſchlanken, leichtfüßigen Jägerinn,<lb/> die mit ihren Nymphen und ihrer Meute durch die Wälder ſtreift. Athene<lb/> iſt zunächſt das Licht, nicht als Sonne, ſondern das Leben des Lichts<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [448/0162]
verlegt wird, ferner den Nachklang des überwundenen Ausgangspunkts
in den Myſterien als eſoteriſch gewordenen, durch ihr geheimnißvolles
Dunkel den Geiſt befangenden Culten ſymboliſcher Art, in der Aufbewah-
rung der alten Götter in der Kunſtdarſtellung, endlich in Allem dem, was
in der Darſtellung der neuen Götter an ihre Naturgrundlage mahnt.
Wir haben bereits von der individuellen Stimmung geſprochen, die ſich
als Reminiſcenz der Naturbedeutung in die Perſönlichkeit des Gottes fort-
ſetzt: die Naturgrundlage wird Naturell. Sie ſetzt ſich ebenſo, wie wir
ſahen, als Begebenheit in den Mythus fort. Hier nun zeigen die Grie-
chen ihre ganze Liebenswürdigkeit; es iſt ihr unendlicher Fortſchritt, daß
ſie den geiſtreichen Leichtſinn hatten, aus ſymboliſchen Acten Geſchichtchen
zu machen und den Grund, die urſprüngliche Bedeutung, zu vergeſſen.
Die Bedeutung iſt zum lebendigen Intereſſe des Gottes geworden, er fragt
nichts mehr nach ihr als bloßer Bedeutung. Die Metamorphoſen, die Liebesge-
ſchichten des Zeus ſind das beſte Beiſpiel. Verfeſtigt ſich nun die Perſönlich-
keit des Gottes in der Phantaſie zu beſtimmterer Geſtalt, ſo finden ſich nur
wenige Reſte ſymboliſch roher Bildung, wie die Epheſiſche Diana, die
priapiſchen Naturgötter, Ungethüme wie die Harpyien u. ſ. w. In einigen
verbeſſert der Schönheitsſinn die Zuſammenſetzung des Menſchlichen und
Thieriſchen, wie in den Faunen und Centauren. Weſentlich aber iſt, daß
das Symbol als Attribut, als thieriſcher Begleiter, als Waffe u. ſ. w.
neben die Geſtalt tritt, dienendes Mittel demſelben wird; ſo der Adler
des Zeus, der Panther des Bacchus, der Delphin der Aphrodite, ſo der Kö-
cher des Apollo und der Diana, der an Sonnen- und Mondesſtrahlen erinnert,
der Donnerkeil des Zeus, der Dreizack des Poſeidon. Endlich aber ſetzt ſich
der ſymboliſche Nachklang in die Geſtalt ſelbſt fort und ſo, daß er das
Motiv zu einer Schönheit wird, entweder als unmittelbarer mit ihr ver-
bundene Zierde, wie der Halbmond der Diana, die Epheu- und Trau-
benguirlanden, die volleren Haarknoten, die man dem Bacchus gab, um
die ſymboliſchen Stierhörner der älteſten Darſtellung zu verbergen — wie
denn das Haar überhaupt und ſeine Behandlung, z. B. die ungeord-
neteren Jupiter-Locken des Poſeidon, beſonders ſymboliſchen Nachklang
zeigt — oder als Haltung und Charakter der Geſtalt ſelbſt und einzel-
ner Organe. So war Diana zunächſt Mondsgöttin; die ahnungsvolle
Wirkung der irrenden Mondſtrahlen in Wald-Einſamkeit mochte Anlaß
ſein, ein anderes Weſen, einen Waldgeiſt, eine Göttin des Waldes und
Wilds mit ihr zu vereinigen; in der griechiſchen Phantaſie wird nun ſo
das Schlüpfende der Mondbeleuchtung, das Säuſeln, Raſcheln, Hallen
und Wiederhallen im Wald zum Bilde der ſchlanken, leichtfüßigen Jägerinn,
die mit ihren Nymphen und ihrer Meute durch die Wälder ſtreift. Athene
iſt zunächſt das Licht, nicht als Sonne, ſondern das Leben des Lichts
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