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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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überhaupt, wie es sich aus dem gröbern Elemente, dem Wasser, entbin-
det und entringt (vergl. Baur a. a. O. Th. 2, Abth. 1 S. 162), der
Lichtgeist in der Natur, dann die Intelligenz. Das Allgemeine, das Reine
des Lichtes geht homogen in diese geistige Bedeutung über, wird als
Jungfräulichkeit, als kalte und strenge Sinnigkeit persönlich vorgestellt und
bedingt so ihre ganze Gestalt, insbesondere aber Farbe und Ausdruck
ihrer Augen: das feucht Durchsichtige, der wasserhelle Glanz, das scharfe
Erfassen des Gegenstands ist es, wodurch sie sich auszeichnen. Daher
ist die glaukopis zugleich die Göttin, die das Augenlicht den Menschen
erhält, und ihr Attribut die in der Nacht sehende hell- und großaugige Eule.

§. 435.

Wenn so der Dualismus im Verfahren aufgehoben ist, so kann er auch1
nicht mehr im orientalischen Sinne (§. 429) Gesetz der zweiten Stoffwelt sein.
Der Gegensatz eines dunkeln Urwesens gegen die bestimmten Götter ist wesent-
lich verändert in der Vorstellung vom Schichsale, der Gegensatz männlicher und2
weiblicher Gottheiten geht auf in ein rein menschliches Wechselverhältniß, der3
Kampf einer guten und bösen Hauptgottheit muß verschwindend am Saume hin-
spielen, noch mehr der Dualismus zwischen Gott und Welt, denn die Götter
der realen Sittlichkeit sind dem Menschen vertraut: dieser trifft, wie sein Sin-
nenleben, so auch seine Willensbestimmungen in ihnen wieder.

1. Wir werden den Schicksalsbegriff sofort wieder aufnehmen, hier
ist nur sogleich zu sagen, daß das griechische Schicksal nicht eigentlich eine
Alles gebärende Urgottheit ist, ein Parabrahma, Zeruane Akerene u. s. w.
Solche Vorstellungen dunkler All-Einheit des Lebens sind mit der symbo-
lischen Naturreligion zurückgelegt; es treten in den orphischen Kosmogo-
nien und in der Hesiodischen oberflächlich personifizirte Wesen auf, welche
den unterschiedslosen Schooß der Dinge als einen Abgrund der unent-
falteten Naturkräfte darstellen, das Chaos, die Erde, Tartaros, Eros,
Erebos, die Nacht, dann Aether und Hemera, Uranos, dann das Reich
des Kronos; auch unter den concret persönlichen Göttern erkennt man
noch in mehreren den Charakter einer allgebährenden und nährenden
dunkeln Urkraft, den sie in den symbolischen Localculten, aus denen sie
erst als Glieder in den ethischen Götterkreis übergingen, als absolute
Gottheiten besaßen, so die Ephesische Diana, Demeter, Kybele oder
Rhea "die große Mutter". Allein nachdem die Götter ethisch geworden,
konnte die Vorstellung eines dunkeln Grundes im alten Sinne keine Kraft
mehr haben. Das Sittliche steht auf eigener Basis, fängt von sich selbst
an, man fragt nicht mehr viel darnach, wie die Dinge als Naturdinge

überhaupt, wie es ſich aus dem gröbern Elemente, dem Waſſer, entbin-
det und entringt (vergl. Baur a. a. O. Th. 2, Abth. 1 S. 162), der
Lichtgeiſt in der Natur, dann die Intelligenz. Das Allgemeine, das Reine
des Lichtes geht homogen in dieſe geiſtige Bedeutung über, wird als
Jungfräulichkeit, als kalte und ſtrenge Sinnigkeit perſönlich vorgeſtellt und
bedingt ſo ihre ganze Geſtalt, insbeſondere aber Farbe und Ausdruck
ihrer Augen: das feucht Durchſichtige, der waſſerhelle Glanz, das ſcharfe
Erfaſſen des Gegenſtands iſt es, wodurch ſie ſich auszeichnen. Daher
iſt die γλαυκῶπις zugleich die Göttin, die das Augenlicht den Menſchen
erhält, und ihr Attribut die in der Nacht ſehende hell- und großaugige Eule.

§. 435.

Wenn ſo der Dualiſmus im Verfahren aufgehoben iſt, ſo kann er auch1
nicht mehr im orientaliſchen Sinne (§. 429) Geſetz der zweiten Stoffwelt ſein.
Der Gegenſatz eines dunkeln Urweſens gegen die beſtimmten Götter iſt weſent-
lich verändert in der Vorſtellung vom Schichſale, der Gegenſatz männlicher und2
weiblicher Gottheiten geht auf in ein rein menſchliches Wechſelverhältniß, der3
Kampf einer guten und böſen Hauptgottheit muß verſchwindend am Saume hin-
ſpielen, noch mehr der Dualiſmus zwiſchen Gott und Welt, denn die Götter
der realen Sittlichkeit ſind dem Menſchen vertraut: dieſer trifft, wie ſein Sin-
nenleben, ſo auch ſeine Willensbeſtimmungen in ihnen wieder.

1. Wir werden den Schickſalsbegriff ſofort wieder aufnehmen, hier
iſt nur ſogleich zu ſagen, daß das griechiſche Schickſal nicht eigentlich eine
Alles gebärende Urgottheit iſt, ein Parabrahma, Zeruane Akerene u. ſ. w.
Solche Vorſtellungen dunkler All-Einheit des Lebens ſind mit der ſymbo-
liſchen Naturreligion zurückgelegt; es treten in den orphiſchen Koſmogo-
nien und in der Heſiodiſchen oberflächlich perſonifizirte Weſen auf, welche
den unterſchiedsloſen Schooß der Dinge als einen Abgrund der unent-
falteten Naturkräfte darſtellen, das Chaos, die Erde, Tartaros, Eros,
Erebos, die Nacht, dann Aether und Hemera, Uranos, dann das Reich
des Kronos; auch unter den concret perſönlichen Göttern erkennt man
noch in mehreren den Charakter einer allgebährenden und nährenden
dunkeln Urkraft, den ſie in den ſymboliſchen Localculten, aus denen ſie
erſt als Glieder in den ethiſchen Götterkreis übergingen, als abſolute
Gottheiten beſaßen, ſo die Epheſiſche Diana, Demeter, Kybele oder
Rhea „die große Mutter“. Allein nachdem die Götter ethiſch geworden,
konnte die Vorſtellung eines dunkeln Grundes im alten Sinne keine Kraft
mehr haben. Das Sittliche ſteht auf eigener Baſis, fängt von ſich ſelbſt
an, man fragt nicht mehr viel darnach, wie die Dinge als Naturdinge

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[449/0163] überhaupt, wie es ſich aus dem gröbern Elemente, dem Waſſer, entbin- det und entringt (vergl. Baur a. a. O. Th. 2, Abth. 1 S. 162), der Lichtgeiſt in der Natur, dann die Intelligenz. Das Allgemeine, das Reine des Lichtes geht homogen in dieſe geiſtige Bedeutung über, wird als Jungfräulichkeit, als kalte und ſtrenge Sinnigkeit perſönlich vorgeſtellt und bedingt ſo ihre ganze Geſtalt, insbeſondere aber Farbe und Ausdruck ihrer Augen: das feucht Durchſichtige, der waſſerhelle Glanz, das ſcharfe Erfaſſen des Gegenſtands iſt es, wodurch ſie ſich auszeichnen. Daher iſt die γλαυκῶπις zugleich die Göttin, die das Augenlicht den Menſchen erhält, und ihr Attribut die in der Nacht ſehende hell- und großaugige Eule. §. 435. Wenn ſo der Dualiſmus im Verfahren aufgehoben iſt, ſo kann er auch nicht mehr im orientaliſchen Sinne (§. 429) Geſetz der zweiten Stoffwelt ſein. Der Gegenſatz eines dunkeln Urweſens gegen die beſtimmten Götter iſt weſent- lich verändert in der Vorſtellung vom Schichſale, der Gegenſatz männlicher und weiblicher Gottheiten geht auf in ein rein menſchliches Wechſelverhältniß, der Kampf einer guten und böſen Hauptgottheit muß verſchwindend am Saume hin- ſpielen, noch mehr der Dualiſmus zwiſchen Gott und Welt, denn die Götter der realen Sittlichkeit ſind dem Menſchen vertraut: dieſer trifft, wie ſein Sin- nenleben, ſo auch ſeine Willensbeſtimmungen in ihnen wieder. 1. Wir werden den Schickſalsbegriff ſofort wieder aufnehmen, hier iſt nur ſogleich zu ſagen, daß das griechiſche Schickſal nicht eigentlich eine Alles gebärende Urgottheit iſt, ein Parabrahma, Zeruane Akerene u. ſ. w. Solche Vorſtellungen dunkler All-Einheit des Lebens ſind mit der ſymbo- liſchen Naturreligion zurückgelegt; es treten in den orphiſchen Koſmogo- nien und in der Heſiodiſchen oberflächlich perſonifizirte Weſen auf, welche den unterſchiedsloſen Schooß der Dinge als einen Abgrund der unent- falteten Naturkräfte darſtellen, das Chaos, die Erde, Tartaros, Eros, Erebos, die Nacht, dann Aether und Hemera, Uranos, dann das Reich des Kronos; auch unter den concret perſönlichen Göttern erkennt man noch in mehreren den Charakter einer allgebährenden und nährenden dunkeln Urkraft, den ſie in den ſymboliſchen Localculten, aus denen ſie erſt als Glieder in den ethiſchen Götterkreis übergingen, als abſolute Gottheiten beſaßen, ſo die Epheſiſche Diana, Demeter, Kybele oder Rhea „die große Mutter“. Allein nachdem die Götter ethiſch geworden, konnte die Vorſtellung eines dunkeln Grundes im alten Sinne keine Kraft mehr haben. Das Sittliche ſteht auf eigener Baſis, fängt von ſich ſelbſt an, man fragt nicht mehr viel darnach, wie die Dinge als Naturdinge

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/163>, abgerufen am 21.11.2024.