Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
geworden, die Antwort, welche die Kosmogonie darauf gibt, genügt, ohne 2. Männliche und weibliche Gottheiten werden Liebende und Ge- 3. In einem Volke, worin das Gute in der Form des Maaßes
geworden, die Antwort, welche die Koſmogonie darauf gibt, genügt, ohne 2. Männliche und weibliche Gottheiten werden Liebende und Ge- 3. In einem Volke, worin das Gute in der Form des Maaßes <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0164" n="450"/> geworden, die Antwort, welche die Koſmogonie darauf gibt, genügt, ohne<lb/> daß man ihr weitere Aufmerkſamkeit ſchenkt. Iſt aber der ſittliche Lebens-<lb/> gehalt an die Götter vertheilt, ſo muß der Urgrund alles Lebens auch<lb/> Grund des Sittlichen ſein, und dieß iſt es, was daran nun weſentlich<lb/> intereſſirt. Die abſolute Einheit kann auch dem Polytheiſmus nie ganz<lb/> verloren gehen, ſie ſchwebt hinter oder über den Göttern, nun aber iſt<lb/> ſie ſittliche Beſtimmung des Lebens. Allein dieſe Beſtimmung iſt ſchlecht-<lb/> weg, dunkel, eben weil, was im Reiche des Bewußtſeins liegt, an die<lb/> Vielen ſchon vertheilt iſt, und ſolches Dunkel iſt freilich wieder Reſt von<lb/> Naturreligion, denn wohl waltet in der Welt der Zufall und ſchließt<lb/> Vorherwiſſen des Schickſals aus, aber der denkende Wille hebt verarbei-<lb/> tend den Zufall auf: dieß iſt noch nicht im Bewußtſein der Griechen,<lb/> daher iſt ihr Schickſal jener dunkle, aus Zufall und Wollen geflochtene<lb/> Knoten, finſter wie eine blinde Naturkraft und doch gerecht, ſittlich.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Männliche und weibliche Gottheiten werden Liebende und Ge-<lb/> liebte, Mann und Frau, Bruder und Schweſter. Dieß waren ſie zwar<lb/> auch in den orientaliſchen Religionen, aber es war nicht Ernſt damit;<lb/> jetzt, bei den Griechen, ſind es die Liebſchaften, die Ehe-Scenen, das<lb/> Zuſammenwirken, womit ſich ein rein menſchliches Intereſſe beſchäftigt;<lb/> zudem gibt es, durch den Zuſammenfluß der örtlichen Culte, viele ſol-<lb/> cher Paare. Das abſtracte Grundgeſetz eines Dualiſmus männlicher und<lb/> weiblicher Götterkraft iſt daher flüſſig geworden, aufgehoben. So war<lb/> Here urſprünglich ſymboliſche Perſonification deſſen, was im Naturleben<lb/> überhaupt als empfangende Seite erſchien, insbeſondere eine Mond- und<lb/> Erd-Gottheit; Zeus verführt ſie als Kukuk unter ſtürmiſchem Frühlings-<lb/> regen: man erkennt das Verhältniß von Himmel und Erde, aber als<lb/> ſeine Gemahlin wird ſie die Gottheit der Ehe und in ihrem launiſchen<lb/> Weſen liegt nur noch eine Spur der Local-Gottheit, deren Dienſt ſich<lb/> widerſtrebend mit dem des Zeus vereinigte.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">3. In einem Volke, worin das Gute in der Form des Maaßes<lb/> liberale Wirklichkeit hat (vergl. §. 349), kann das Böſe ebenſowenig zum<lb/> hartnäckig reflectirten Eigenſinn der ſubjectiven Empörung ſich zuſammen-<lb/> faſſen, als jenes auf einem tieferen Bruche des reinen Willens mit dem<lb/> ſinnlichen ruht. Zeigt alſo das Leben der Griechen die eigentliche Ge-<lb/> ſtalt des Böſen nicht, ſo können ſie auch keinen böſen Gott dichten. Zwar<lb/> ſagten wir von dem Gegenſatze guter und böſer Götter in der orienta-<lb/> liſchen Religion, daß es nicht eigentlich ein ſittlicher, ſondern ein Kampf<lb/> des Heilſamen und Schädlichen ſei; allein der ſchädliche Gott wird doch<lb/> dargeſtellt als ein ſolcher, der das Schädliche <hi rendition="#g">will</hi>, und zwar mit ſol-<lb/> chem Grimme, daß man ſogleich das größere Talent zum eigentlich Bö-<lb/> ſen erkennt, das im Charakter dieſer Nationen, beſonders der Semiten,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [450/0164]
geworden, die Antwort, welche die Koſmogonie darauf gibt, genügt, ohne
daß man ihr weitere Aufmerkſamkeit ſchenkt. Iſt aber der ſittliche Lebens-
gehalt an die Götter vertheilt, ſo muß der Urgrund alles Lebens auch
Grund des Sittlichen ſein, und dieß iſt es, was daran nun weſentlich
intereſſirt. Die abſolute Einheit kann auch dem Polytheiſmus nie ganz
verloren gehen, ſie ſchwebt hinter oder über den Göttern, nun aber iſt
ſie ſittliche Beſtimmung des Lebens. Allein dieſe Beſtimmung iſt ſchlecht-
weg, dunkel, eben weil, was im Reiche des Bewußtſeins liegt, an die
Vielen ſchon vertheilt iſt, und ſolches Dunkel iſt freilich wieder Reſt von
Naturreligion, denn wohl waltet in der Welt der Zufall und ſchließt
Vorherwiſſen des Schickſals aus, aber der denkende Wille hebt verarbei-
tend den Zufall auf: dieß iſt noch nicht im Bewußtſein der Griechen,
daher iſt ihr Schickſal jener dunkle, aus Zufall und Wollen geflochtene
Knoten, finſter wie eine blinde Naturkraft und doch gerecht, ſittlich.
2. Männliche und weibliche Gottheiten werden Liebende und Ge-
liebte, Mann und Frau, Bruder und Schweſter. Dieß waren ſie zwar
auch in den orientaliſchen Religionen, aber es war nicht Ernſt damit;
jetzt, bei den Griechen, ſind es die Liebſchaften, die Ehe-Scenen, das
Zuſammenwirken, womit ſich ein rein menſchliches Intereſſe beſchäftigt;
zudem gibt es, durch den Zuſammenfluß der örtlichen Culte, viele ſol-
cher Paare. Das abſtracte Grundgeſetz eines Dualiſmus männlicher und
weiblicher Götterkraft iſt daher flüſſig geworden, aufgehoben. So war
Here urſprünglich ſymboliſche Perſonification deſſen, was im Naturleben
überhaupt als empfangende Seite erſchien, insbeſondere eine Mond- und
Erd-Gottheit; Zeus verführt ſie als Kukuk unter ſtürmiſchem Frühlings-
regen: man erkennt das Verhältniß von Himmel und Erde, aber als
ſeine Gemahlin wird ſie die Gottheit der Ehe und in ihrem launiſchen
Weſen liegt nur noch eine Spur der Local-Gottheit, deren Dienſt ſich
widerſtrebend mit dem des Zeus vereinigte.
3. In einem Volke, worin das Gute in der Form des Maaßes
liberale Wirklichkeit hat (vergl. §. 349), kann das Böſe ebenſowenig zum
hartnäckig reflectirten Eigenſinn der ſubjectiven Empörung ſich zuſammen-
faſſen, als jenes auf einem tieferen Bruche des reinen Willens mit dem
ſinnlichen ruht. Zeigt alſo das Leben der Griechen die eigentliche Ge-
ſtalt des Böſen nicht, ſo können ſie auch keinen böſen Gott dichten. Zwar
ſagten wir von dem Gegenſatze guter und böſer Götter in der orienta-
liſchen Religion, daß es nicht eigentlich ein ſittlicher, ſondern ein Kampf
des Heilſamen und Schädlichen ſei; allein der ſchädliche Gott wird doch
dargeſtellt als ein ſolcher, der das Schädliche will, und zwar mit ſol-
chem Grimme, daß man ſogleich das größere Talent zum eigentlich Bö-
ſen erkennt, das im Charakter dieſer Nationen, beſonders der Semiten,
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