Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
meinen, müsse alsbald den unfreien Schein, zunächst im Bewußtsein des §. 437. 1 Diese Phantasie erst hat also wahrhaft das Gebiet der menschlichen
meinen, müſſe alsbald den unfreien Schein, zunächſt im Bewußtſein des §. 437. 1 Dieſe Phantaſie erſt hat alſo wahrhaft das Gebiet der menſchlichen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0170" n="456"/> meinen, müſſe alsbald den unfreien Schein, zunächſt im Bewußtſein des<lb/> Künſtlers, dann in dem des Volks (vergl. §. 419) aufheben und ſo die<lb/> Wahrheit ſich geltend machen, daß die Kunſt „die Ironie des Ueberſinn-<lb/> lichen“ iſt. Allein ſo raſch geht es nicht; wie heiter auch die Ironie iſt,<lb/> mit welcher die Phantaſie, ſelbſt im Homer ſchon, den illuſoriſchen Stoff<lb/> behandelt, ſie bleibt dennoch ganz in der Illuſion. Dieſe Phantaſie dient<lb/> nicht mehr, weder einem prieſterlichen Willen, noch einer Lehre, ſie iſt<lb/> noch obligat in gewiſſen Grenzen (Attribute u. ſ. w.), allein ſelbſt die<lb/> Bedingungen, worin ſie obligat iſt, weiß ſie ſo zu wenden, daß ebenſo-<lb/> viele Schönheiten daraus erwachſen. Sie muß nicht mehr die Wahrheit<lb/> ſuchen helfen wie in Aegypten, wo ſie ebendadurch Nothhilfe und voll<lb/> ſaurer Arbeit war; die Wahrheit iſt gefunden: das Abſolute iſt der har-<lb/> moniſche Menſch. Die Phantaſie iſt daher jetzt eine Frucht, die ungeſucht<lb/> vom Baume fällt; ſie ſchafft das Schöne um des Schönen willen. Allein<lb/> ſie kennt dennoch ſich ſelbſt, die Folgen ihres freien und befreienden Thuns<lb/> noch nicht, ſie iſt überzeugt, dem Glauben zu dienen, ſie meint, nur das<lb/> Gemüth erheben, erfüllen zu wollen, ſie ſpricht von ſich ſelbſt ganz dog-<lb/> matiſch, als wäre es ihr um Lehren und Förderung der Andacht zu thun,<lb/> und doch iſt ihr das Schöne Selbſtzweck, ohne daß ſie es weiß. Heutiges<lb/> Tags weiß Jeder an den Fingern abzuzählen, daß und warum das<lb/> Schöne keinen Zweck außer ſich haben ſoll, und doch weiß er nichts Schö-<lb/> nes zu machen, während nach dem Grundſatz der freien Schönheit friſch-<lb/> weg <hi rendition="#g">gehandelt</hi> wurde, als man ihn noch nicht im Begriffe kannte, als<lb/> man noch trocken meinte, es handle ſich um didaktiſche Zwecke.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 437.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Dieſe Phantaſie erſt hat alſo wahrhaft das Gebiet der <hi rendition="#g">menſchlichen<lb/> Schönheit</hi> eingenommen und hält es neben dem <hi rendition="#g">thieriſchen</hi> ausſchließlich<lb/><note place="left">2</note>feſt. Jetzt erſt, da die menſchliche Perſönlichkeit im Gotte von jedem ſtörenden<lb/> Zufall rein vorgeſtellt wird, iſt das <hi rendition="#g">Ideal</hi> in ſeiner eigentlichen Bedeutung<lb/> möglich. Es gibt viele Götter und jeder derſelben unterſcheidet ſich vom andern<lb/> durch die zur individuellen Eigenheit aufgehobene ſymboliſche Naturgrundlage,<lb/> den darauf gebauten geiſtigen Charakter und die ihm entſprechende Geſtalt.<lb/> Allein in dieſem Ideal muß zunächſt um des mythiſchen Standpunktes willen<lb/><hi rendition="#g">die einzelne Geſtalt ſchön ſein</hi>, und ſo hält die griechiſche Phantaſie<lb/> mit ſicherem Tacte die Grenzlinie ein, wo die Individualität den reinen Gat-<lb/> tungstypus in härterer Abweichung überſchreitet; jeder Gott bleibt mitten in ſeiner<lb/> Beſtimmtheit frei und allgemein die ganze Gottheit in ungetrübter, ſchmerzloſer<lb/> Unendlichkeit und Selbſtgenugſamkeit. Ein Wiederſchein dieſer Abſolutheit theilt<lb/> ſich auch der aus der urſprünglichen Stoffwelt aufgenommenen Perſönlichkeit mit.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [456/0170]
meinen, müſſe alsbald den unfreien Schein, zunächſt im Bewußtſein des
Künſtlers, dann in dem des Volks (vergl. §. 419) aufheben und ſo die
Wahrheit ſich geltend machen, daß die Kunſt „die Ironie des Ueberſinn-
lichen“ iſt. Allein ſo raſch geht es nicht; wie heiter auch die Ironie iſt,
mit welcher die Phantaſie, ſelbſt im Homer ſchon, den illuſoriſchen Stoff
behandelt, ſie bleibt dennoch ganz in der Illuſion. Dieſe Phantaſie dient
nicht mehr, weder einem prieſterlichen Willen, noch einer Lehre, ſie iſt
noch obligat in gewiſſen Grenzen (Attribute u. ſ. w.), allein ſelbſt die
Bedingungen, worin ſie obligat iſt, weiß ſie ſo zu wenden, daß ebenſo-
viele Schönheiten daraus erwachſen. Sie muß nicht mehr die Wahrheit
ſuchen helfen wie in Aegypten, wo ſie ebendadurch Nothhilfe und voll
ſaurer Arbeit war; die Wahrheit iſt gefunden: das Abſolute iſt der har-
moniſche Menſch. Die Phantaſie iſt daher jetzt eine Frucht, die ungeſucht
vom Baume fällt; ſie ſchafft das Schöne um des Schönen willen. Allein
ſie kennt dennoch ſich ſelbſt, die Folgen ihres freien und befreienden Thuns
noch nicht, ſie iſt überzeugt, dem Glauben zu dienen, ſie meint, nur das
Gemüth erheben, erfüllen zu wollen, ſie ſpricht von ſich ſelbſt ganz dog-
matiſch, als wäre es ihr um Lehren und Förderung der Andacht zu thun,
und doch iſt ihr das Schöne Selbſtzweck, ohne daß ſie es weiß. Heutiges
Tags weiß Jeder an den Fingern abzuzählen, daß und warum das
Schöne keinen Zweck außer ſich haben ſoll, und doch weiß er nichts Schö-
nes zu machen, während nach dem Grundſatz der freien Schönheit friſch-
weg gehandelt wurde, als man ihn noch nicht im Begriffe kannte, als
man noch trocken meinte, es handle ſich um didaktiſche Zwecke.
§. 437.
Dieſe Phantaſie erſt hat alſo wahrhaft das Gebiet der menſchlichen
Schönheit eingenommen und hält es neben dem thieriſchen ausſchließlich
feſt. Jetzt erſt, da die menſchliche Perſönlichkeit im Gotte von jedem ſtörenden
Zufall rein vorgeſtellt wird, iſt das Ideal in ſeiner eigentlichen Bedeutung
möglich. Es gibt viele Götter und jeder derſelben unterſcheidet ſich vom andern
durch die zur individuellen Eigenheit aufgehobene ſymboliſche Naturgrundlage,
den darauf gebauten geiſtigen Charakter und die ihm entſprechende Geſtalt.
Allein in dieſem Ideal muß zunächſt um des mythiſchen Standpunktes willen
die einzelne Geſtalt ſchön ſein, und ſo hält die griechiſche Phantaſie
mit ſicherem Tacte die Grenzlinie ein, wo die Individualität den reinen Gat-
tungstypus in härterer Abweichung überſchreitet; jeder Gott bleibt mitten in ſeiner
Beſtimmtheit frei und allgemein die ganze Gottheit in ungetrübter, ſchmerzloſer
Unendlichkeit und Selbſtgenugſamkeit. Ein Wiederſchein dieſer Abſolutheit theilt
ſich auch der aus der urſprünglichen Stoffwelt aufgenommenen Perſönlichkeit mit.
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