Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.Allerdings trat nun auch die ursprüngliche Stoffwelt in die Phan- 2. Nur sparsam und spät rückte die ursprüngliche Stoffwelt in die So ist also die Phantasie ganz auf Mythus und Sage, schließlich Allerdings trat nun auch die urſprüngliche Stoffwelt in die Phan- 2. Nur ſparſam und ſpät rückte die urſprüngliche Stoffwelt in die So iſt alſo die Phantaſie ganz auf Mythus und Sage, ſchließlich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <pb facs="#f0169" n="455"/> <p> <hi rendition="#et">Allerdings trat nun auch die urſprüngliche Stoffwelt in die Phan-<lb/> taſie als Gegenſtand ein ohne ausdrückliche Vergötterung: die großen<lb/> Momente und Perſonen der Geſchichte, die allgemeinen Culturformen,<lb/> Gottesdienſt, Gymnaſtik und Orcheſtik, Theater, Krieg, Jagd, Landleben,<lb/> häusliches Leben, Feſt, Genuß. Wir werden die Grenze dieſer Ausdeh-<lb/> nung auf die urſprüngliche Stoffwelt ſogleich auffaſſen; hier iſt zunächſt<lb/> das weitere Verhältniß noch auszuzeichnen, daß eine Phantaſie, die mit<lb/> dieſer Lebendigkeit des Beſeelens und Vermenſchlichens Alles ergrief, auch<lb/> das unmittelbare, ſtoffartige Leben auf allen Punkten im Sinne des an-<lb/> hängenden Schönen (vergl. §. 23, <hi rendition="#sub">3.</hi>) durchdringen mußte. Der Genuß,<lb/> das Feſt, die Waffe, das Geräthe, Alles wurde nicht nur in Formen<lb/> veredelt, ſondern beſtimmter eben in vergöttlichenden. Das Gewicht an<lb/> der Wage war ein Merkurskopf, das Trinkgefäß, den Candelaber zierten<lb/> Mythen u. ſ. w. Dieß gehört nicht erſt in die Kunſt, es hatte ſeinen<lb/> Urſprung in der Vollendung der polytheiſtiſchen Phantaſie.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Nur ſparſam und ſpät rückte die urſprüngliche Stoffwelt in die<lb/> Phantaſie ein, den Grund dieſer Einſchränkung brauchen wir nicht wei-<lb/> ter auseinanderzuſetzen. Auch mußte das Wenige, was aus ihr aufge-<lb/> nommen wurde, immer wenigſtens im Geiſte der Vergötterung, wenn<lb/> ſolche nicht ausdrücklich hervortrat, behandelt werden. Dieſe Wirkung<lb/> zeigte ſich im Kunſtſtyle, der auch bei Porträts, bei hiſtoriſchen Schlach-<lb/> ten u. ſ. w. angewandt wurde, und von dieſem Style können wir zunächſt<lb/> ſchon hier ſoviel ſagen, daß das Geheimniß, wodurch er überall vergöt-<lb/> ternd wirkte, ein Unterdrücken der engeren individuellen Züge, ein Er-<lb/> heben in’s Allgemeine, Gattungsmäßige war in einem Sinne, den das<lb/> Schöne in einem andern Ideal ſehr wohl überſchreiten kann, ohne ſich,<lb/> ohne die Idealität aufzuheben. Dieß iſt die Weiſe, in welcher ſich bei<lb/> den Griechen geltend macht, was wir in §. 62 eine Ariſtokratie der<lb/> Geſtalt nannten. Eine weitere weſentliche Begrenzung bringt der folg. §.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">So iſt alſo die Phantaſie ganz auf Mythus und Sage, ſchließlich<lb/> auf die Religion geſtellt und daher unfrei. Allein bei den Griechen ſtellt<lb/> ſich ein verändertes Verhältniß der beſonderen Phantaſie zur allgemeinen<lb/> ein. Wie dieſe das Symbol, ſo überwindet jene, frühe mündig und<lb/> keiner Prieſterſatzung unterworfen, den Typus; die Dichter Heſiod und<lb/> Homer ſind es, die (Herodot 2, 53.) den Griechen ihre Götter gegeben<lb/> haben; wir dürfen ſagen: die Künſtler überhaupt, und den Prozeß als<lb/> ein flüſſiges Wechſelverhältniß bezeichnen, in welchem die begabtere Phan-<lb/> taſie den rohen Gott aus den Händen der allgemeinen empfing und rei-<lb/> ner, menſchlicher gebildet an ſie zurückgab. Sie war gebunden im Um-<lb/> fang, nämlich gegenüber der urſprünglichen Stoffwelt, frei in der Art<lb/> ihres Verfahrens. Dieß freie Bilden nun, ſollte man nach §. 62. 63.<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [455/0169]
Allerdings trat nun auch die urſprüngliche Stoffwelt in die Phan-
taſie als Gegenſtand ein ohne ausdrückliche Vergötterung: die großen
Momente und Perſonen der Geſchichte, die allgemeinen Culturformen,
Gottesdienſt, Gymnaſtik und Orcheſtik, Theater, Krieg, Jagd, Landleben,
häusliches Leben, Feſt, Genuß. Wir werden die Grenze dieſer Ausdeh-
nung auf die urſprüngliche Stoffwelt ſogleich auffaſſen; hier iſt zunächſt
das weitere Verhältniß noch auszuzeichnen, daß eine Phantaſie, die mit
dieſer Lebendigkeit des Beſeelens und Vermenſchlichens Alles ergrief, auch
das unmittelbare, ſtoffartige Leben auf allen Punkten im Sinne des an-
hängenden Schönen (vergl. §. 23, 3.) durchdringen mußte. Der Genuß,
das Feſt, die Waffe, das Geräthe, Alles wurde nicht nur in Formen
veredelt, ſondern beſtimmter eben in vergöttlichenden. Das Gewicht an
der Wage war ein Merkurskopf, das Trinkgefäß, den Candelaber zierten
Mythen u. ſ. w. Dieß gehört nicht erſt in die Kunſt, es hatte ſeinen
Urſprung in der Vollendung der polytheiſtiſchen Phantaſie.
2. Nur ſparſam und ſpät rückte die urſprüngliche Stoffwelt in die
Phantaſie ein, den Grund dieſer Einſchränkung brauchen wir nicht wei-
ter auseinanderzuſetzen. Auch mußte das Wenige, was aus ihr aufge-
nommen wurde, immer wenigſtens im Geiſte der Vergötterung, wenn
ſolche nicht ausdrücklich hervortrat, behandelt werden. Dieſe Wirkung
zeigte ſich im Kunſtſtyle, der auch bei Porträts, bei hiſtoriſchen Schlach-
ten u. ſ. w. angewandt wurde, und von dieſem Style können wir zunächſt
ſchon hier ſoviel ſagen, daß das Geheimniß, wodurch er überall vergöt-
ternd wirkte, ein Unterdrücken der engeren individuellen Züge, ein Er-
heben in’s Allgemeine, Gattungsmäßige war in einem Sinne, den das
Schöne in einem andern Ideal ſehr wohl überſchreiten kann, ohne ſich,
ohne die Idealität aufzuheben. Dieß iſt die Weiſe, in welcher ſich bei
den Griechen geltend macht, was wir in §. 62 eine Ariſtokratie der
Geſtalt nannten. Eine weitere weſentliche Begrenzung bringt der folg. §.
So iſt alſo die Phantaſie ganz auf Mythus und Sage, ſchließlich
auf die Religion geſtellt und daher unfrei. Allein bei den Griechen ſtellt
ſich ein verändertes Verhältniß der beſonderen Phantaſie zur allgemeinen
ein. Wie dieſe das Symbol, ſo überwindet jene, frühe mündig und
keiner Prieſterſatzung unterworfen, den Typus; die Dichter Heſiod und
Homer ſind es, die (Herodot 2, 53.) den Griechen ihre Götter gegeben
haben; wir dürfen ſagen: die Künſtler überhaupt, und den Prozeß als
ein flüſſiges Wechſelverhältniß bezeichnen, in welchem die begabtere Phan-
taſie den rohen Gott aus den Händen der allgemeinen empfing und rei-
ner, menſchlicher gebildet an ſie zurückgab. Sie war gebunden im Um-
fang, nämlich gegenüber der urſprünglichen Stoffwelt, frei in der Art
ihres Verfahrens. Dieß freie Bilden nun, ſollte man nach §. 62. 63.
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