Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
Argonautenzugs, Thessalien die Sage von Admet und Alcestis, Peleus, Diese Sagen knüpfen sich nun durchaus so an den Mythus, daß
Argonautenzugs, Theſſalien die Sage von Admet und Alceſtis, Peleus, Dieſe Sagen knüpfen ſich nun durchaus ſo an den Mythus, daß <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0168" n="454"/> Argonautenzugs, Theſſalien die Sage von Admet und Alceſtis, Peleus,<lb/> Thetis, Achilles, Aetolien von Meleagros und der Kalydoniſchen Eber-<lb/> jagd, Thracien von Orpheus. Der Peloponnes bildet ſeine eigenen reichen<lb/> Kreiſe aus, von Bellerophon, Jo, den Danaiden, Perſeus, den Dioſku-<lb/> ren, und mit der Sage von Pelops beginnt die blutige Fabel ſeines Ge-<lb/> ſchlechts, das nun unmittelbar zu jenem vollſtändigſten Sagenkreiſe, worin<lb/> die große kriegeriſche Unternehmung in Aſien gefeiert wird, dem trojani-<lb/> ſchen führt. Kein Volk hat ſeine Bubenjahre mit einer ſo ausgebildet<lb/> heiteren und wieder furchtbaren, ſo ausführlichen und alles Verwandte<lb/> organiſch vereinigenden Sage, wie die trojaniſche, gefeiert. Hier treten<lb/> denn verſammelt die großen Typen der einzelnen Tugenden des Volkes<lb/> in leuchtenden Bildern auf; die Ausfahrt, der Krieg, die Heimfahrt geben<lb/> ebenſoviele Anknüpfungen, die mehr vereinzelten Sagen, die Familien-<lb/> ſchickſale, wie namentlich die der Atriden, die in Ithaka gebildete Sage<lb/> von Penelope und ihren Freiern, die Schiffermährchen (in der Odyſſee)<lb/> hereinzuziehen. Das wilde aſiatiſche Weibervolk der Amazonen, das öfters<lb/> in dieſer griechiſchen Vorzeit auftritt, wird am Schluſſe auch noch in die-<lb/> ſen Cyklus aufgenommen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Dieſe Sagen knüpfen ſich nun durchaus ſo an den Mythus, daß<lb/> Götter und Menſchen, Naturgeſetz und willkührliche Aufhebung deſſelben<lb/> bunt durcheinanderſpielen. Die Helden ſtammen von Göttern, werden<lb/> von Göttern geliebt und geſchützt, gehaßt und verfolgt, und es herrſcht<lb/> ein allgemeines Doppeltſetzen. Achilles faßt ſich, bezwingt ſich im Streit<lb/> mit Agamemnon: es iſt Athene, die ihn an der goldenen Locke ergreift.<lb/> Wir ſagen: es war, als zupfte mich etwas; hier thut es Athene wirklich.<lb/> Dieſe Phantaſie hat Alles vermenſchlichend verdoppelt, alles Bedeutende<lb/> thut die Natur oder ein Menſch, aber auch ebenſo ein Gott. Es iſt<lb/> nicht das geringſte Bewußtſein des Widerſpruchs in dieſer Verdopplung<lb/> vorhanden; es gibt daher kein <hi rendition="#g">Wunder</hi>, wie bei den Juden, welche die<lb/> Natur entgöttert hatten. Nur da tritt ein ſolches ein, wo die Naturge-<lb/> ſetze alterirt erſcheinen ohne perſönliches Wirken eines Gottes, wo das<lb/> einzelne Geſetz unvermittelt in das abſolute einſinkt und ſozuſagen der<lb/> feſte Boden unter den Füßen bricht. Während das perſönliche Eingrei-<lb/> fen der Götter zum Naturlaufe gehört, iſt es daher geiſterhaft, wenn<lb/> z. B. in der Odyſſee die Häute der geſchlachteten Thiere zu brüllen anfan-<lb/> gen (vergl. die feinen Bemerkungen in Solgers Aeſth. S. 153 ff.). Welche<lb/> herrlichen Motive aber die durchgängige Anknüpfung der Sage an den<lb/> Mythus gab, davon ſei als Beiſpiel nur die Sage von Achilles erwähnt,<lb/> wie ſie einem Skopas den Stoff zu ſeiner hochbewunderten Darſtellung<lb/> des gefallenen Helden, den die Meergottheiten nach der Inſel Leuke füh-<lb/> ren, gegeben hat.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [454/0168]
Argonautenzugs, Theſſalien die Sage von Admet und Alceſtis, Peleus,
Thetis, Achilles, Aetolien von Meleagros und der Kalydoniſchen Eber-
jagd, Thracien von Orpheus. Der Peloponnes bildet ſeine eigenen reichen
Kreiſe aus, von Bellerophon, Jo, den Danaiden, Perſeus, den Dioſku-
ren, und mit der Sage von Pelops beginnt die blutige Fabel ſeines Ge-
ſchlechts, das nun unmittelbar zu jenem vollſtändigſten Sagenkreiſe, worin
die große kriegeriſche Unternehmung in Aſien gefeiert wird, dem trojani-
ſchen führt. Kein Volk hat ſeine Bubenjahre mit einer ſo ausgebildet
heiteren und wieder furchtbaren, ſo ausführlichen und alles Verwandte
organiſch vereinigenden Sage, wie die trojaniſche, gefeiert. Hier treten
denn verſammelt die großen Typen der einzelnen Tugenden des Volkes
in leuchtenden Bildern auf; die Ausfahrt, der Krieg, die Heimfahrt geben
ebenſoviele Anknüpfungen, die mehr vereinzelten Sagen, die Familien-
ſchickſale, wie namentlich die der Atriden, die in Ithaka gebildete Sage
von Penelope und ihren Freiern, die Schiffermährchen (in der Odyſſee)
hereinzuziehen. Das wilde aſiatiſche Weibervolk der Amazonen, das öfters
in dieſer griechiſchen Vorzeit auftritt, wird am Schluſſe auch noch in die-
ſen Cyklus aufgenommen.
Dieſe Sagen knüpfen ſich nun durchaus ſo an den Mythus, daß
Götter und Menſchen, Naturgeſetz und willkührliche Aufhebung deſſelben
bunt durcheinanderſpielen. Die Helden ſtammen von Göttern, werden
von Göttern geliebt und geſchützt, gehaßt und verfolgt, und es herrſcht
ein allgemeines Doppeltſetzen. Achilles faßt ſich, bezwingt ſich im Streit
mit Agamemnon: es iſt Athene, die ihn an der goldenen Locke ergreift.
Wir ſagen: es war, als zupfte mich etwas; hier thut es Athene wirklich.
Dieſe Phantaſie hat Alles vermenſchlichend verdoppelt, alles Bedeutende
thut die Natur oder ein Menſch, aber auch ebenſo ein Gott. Es iſt
nicht das geringſte Bewußtſein des Widerſpruchs in dieſer Verdopplung
vorhanden; es gibt daher kein Wunder, wie bei den Juden, welche die
Natur entgöttert hatten. Nur da tritt ein ſolches ein, wo die Naturge-
ſetze alterirt erſcheinen ohne perſönliches Wirken eines Gottes, wo das
einzelne Geſetz unvermittelt in das abſolute einſinkt und ſozuſagen der
feſte Boden unter den Füßen bricht. Während das perſönliche Eingrei-
fen der Götter zum Naturlaufe gehört, iſt es daher geiſterhaft, wenn
z. B. in der Odyſſee die Häute der geſchlachteten Thiere zu brüllen anfan-
gen (vergl. die feinen Bemerkungen in Solgers Aeſth. S. 153 ff.). Welche
herrlichen Motive aber die durchgängige Anknüpfung der Sage an den
Mythus gab, davon ſei als Beiſpiel nur die Sage von Achilles erwähnt,
wie ſie einem Skopas den Stoff zu ſeiner hochbewunderten Darſtellung
des gefallenen Helden, den die Meergottheiten nach der Inſel Leuke füh-
ren, gegeben hat.
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