Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
stens und mehr decorativ, als in der Hauptdarstellung, von der Allegorie §. 445. Die Auflösung des antiken Ideals mußte sich aber auch in der ausge-1 1. Das antike Ideal kann eigentlich das Eindringen der ursprüng-
ſtens und mehr decorativ, als in der Hauptdarſtellung, von der Allegorie §. 445. Die Auflöſung des antiken Ideals mußte ſich aber auch in der ausge-1 1. Das antike Ideal kann eigentlich das Eindringen der urſprüng- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0185" n="471"/> ſtens und mehr decorativ, als in der Hauptdarſtellung, von der Allegorie<lb/> Gebrauch machen dürfen? Dieſe gehört in die Kunſtlehre. Wir werden<lb/> aber auch in der Geſchichte des Ideals noch an mehreren Orten die Alle-<lb/> gorie aufnehmen müſſen; insbeſondere, um das ebengenannte „noch nicht“,<lb/> d. h. die Frage, ob die Allegorie nicht doch auch als Geſtalt der unrei-<lb/> fen Phantaſie hervortrete, aufzunehmen.</hi> </p> </div><lb/> <div n="7"> <head>§. 445.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Die Auflöſung des antiken Ideals mußte ſich aber auch in der ausge-<note place="right">1</note><lb/> dehnteren Aufnahme der urſprünglichen Stoffwelt äußern und zwar zunächſt <hi rendition="#g">po-<lb/> ſitiv</hi>, ſo daß eine götterloſe Wirklichkeit, welcher das in ſeine vereinzelte<lb/> Lebendigkeit zurückgeführte Subject gegenüberſteht, durch Vertiefung deſſelben<lb/> in die engeren Gebiete des menſchlichen Daſeins Geltung im Schönen erhielt.<lb/> Dieſe ſubjective Vertiefung, welche ſich nicht mehr in der bildenden, ſondern in<lb/> der empfindend dichtenden Form niederlegt, iſt theils eine ſinnlich leidenſchaft-<lb/> liche, theils eine gefühlvoll wehmüthige, welche das Glück der objectiven Le-<lb/> bensform in heimlichen, von der verderbten Welt zurückgezogenen Kreiſen auf-<lb/> ſucht oder die Kürze des perſönlichen Genuſſes beklagt. Ueberall lagen hier<note place="right">2</note><lb/> die Abirrungen in ſinnliche Ueppigkeit, Häßlichkeit und in Trennung des Denkens<lb/> von der Formthätigkeit der Phantaſie nahe (vergl. §. 406).</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Das antike Ideal kann eigentlich das Eindringen der urſprüng-<lb/> lichen Stoffwelt nicht vertragen; da die Weiſe ſeines Idealiſirens Ver-<lb/> götterung iſt, ſo kann es den Weg zum freien Idealiſiren ohne Götter<lb/> nicht finden und bemüht ſich in einſeitigen Verſuchen, den eingetretenen<lb/> Bruch zwiſchen Bild und Idee, Gegenſtand und idealiſirendem Subject<lb/> auszufüllen. Sogleich iſt aber wohl zu bemerken, daß das wichtigſte<lb/> Stück der urſprünglichen Stoffwelt jedenfalls wegfällt: die großen ge-<lb/> ſchichtlichen Stoffe; denn das Volksleben iſt ja zerfallen, die Einzelnen<lb/> ſind punktuell geworden. Der vereinzelte Menſch rettet daher ſeine Le-<lb/> bendigkeit in die Enge. Jetzt wird alſo vor Allem das <hi rendition="#g">Privatleben</hi>,<lb/> das im blühenden Alterthum (vergl. 350, <hi rendition="#sub">3.</hi>) ſo ſehr zurücktrat, intereſſant:<lb/> die Abentheuer, die Liebesgeſchichten, das Familienleben des Einzelnen;<lb/> ferner die Beſchäftigungen, die Sitten und Bräuche, die Genüſſe, das<lb/> Pſychologiſche im Individuum, kurz Alles das, was wir in §. 326. 327.<lb/> 330—340 umfaßten und wohl auch mit dem Namen des rein Menſch-<lb/> lichen bezeichneten. Selbſt die landſchaftliche Schönheit fängt an bemerkt<lb/> und freilich wieder mit Einmiſchungen des Mythiſchen, was ſie eigentlich<lb/> aufhebt, von der Phantaſie aufgefaßt zu werden. Das Wichtigſte iſt das<lb/> Verhältniß des phantaſievollen Individuums zu den ihm nun vorzüglich<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [471/0185]
ſtens und mehr decorativ, als in der Hauptdarſtellung, von der Allegorie
Gebrauch machen dürfen? Dieſe gehört in die Kunſtlehre. Wir werden
aber auch in der Geſchichte des Ideals noch an mehreren Orten die Alle-
gorie aufnehmen müſſen; insbeſondere, um das ebengenannte „noch nicht“,
d. h. die Frage, ob die Allegorie nicht doch auch als Geſtalt der unrei-
fen Phantaſie hervortrete, aufzunehmen.
§. 445.
Die Auflöſung des antiken Ideals mußte ſich aber auch in der ausge-
dehnteren Aufnahme der urſprünglichen Stoffwelt äußern und zwar zunächſt po-
ſitiv, ſo daß eine götterloſe Wirklichkeit, welcher das in ſeine vereinzelte
Lebendigkeit zurückgeführte Subject gegenüberſteht, durch Vertiefung deſſelben
in die engeren Gebiete des menſchlichen Daſeins Geltung im Schönen erhielt.
Dieſe ſubjective Vertiefung, welche ſich nicht mehr in der bildenden, ſondern in
der empfindend dichtenden Form niederlegt, iſt theils eine ſinnlich leidenſchaft-
liche, theils eine gefühlvoll wehmüthige, welche das Glück der objectiven Le-
bensform in heimlichen, von der verderbten Welt zurückgezogenen Kreiſen auf-
ſucht oder die Kürze des perſönlichen Genuſſes beklagt. Ueberall lagen hier
die Abirrungen in ſinnliche Ueppigkeit, Häßlichkeit und in Trennung des Denkens
von der Formthätigkeit der Phantaſie nahe (vergl. §. 406).
1. Das antike Ideal kann eigentlich das Eindringen der urſprüng-
lichen Stoffwelt nicht vertragen; da die Weiſe ſeines Idealiſirens Ver-
götterung iſt, ſo kann es den Weg zum freien Idealiſiren ohne Götter
nicht finden und bemüht ſich in einſeitigen Verſuchen, den eingetretenen
Bruch zwiſchen Bild und Idee, Gegenſtand und idealiſirendem Subject
auszufüllen. Sogleich iſt aber wohl zu bemerken, daß das wichtigſte
Stück der urſprünglichen Stoffwelt jedenfalls wegfällt: die großen ge-
ſchichtlichen Stoffe; denn das Volksleben iſt ja zerfallen, die Einzelnen
ſind punktuell geworden. Der vereinzelte Menſch rettet daher ſeine Le-
bendigkeit in die Enge. Jetzt wird alſo vor Allem das Privatleben,
das im blühenden Alterthum (vergl. 350, 3.) ſo ſehr zurücktrat, intereſſant:
die Abentheuer, die Liebesgeſchichten, das Familienleben des Einzelnen;
ferner die Beſchäftigungen, die Sitten und Bräuche, die Genüſſe, das
Pſychologiſche im Individuum, kurz Alles das, was wir in §. 326. 327.
330—340 umfaßten und wohl auch mit dem Namen des rein Menſch-
lichen bezeichneten. Selbſt die landſchaftliche Schönheit fängt an bemerkt
und freilich wieder mit Einmiſchungen des Mythiſchen, was ſie eigentlich
aufhebt, von der Phantaſie aufgefaßt zu werden. Das Wichtigſte iſt das
Verhältniß des phantaſievollen Individuums zu den ihm nun vorzüglich
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