Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
römischer Götter; wie die römische Religion für jede gewöhnlichste Lebens- §. 450. Diese durch die Sage an die ursprüngliche Stoffwelt angeknüpfte zweite1 1. Man hat schon von einer Romantik der Alten gesprochen, man 31*
römiſcher Götter; wie die römiſche Religion für jede gewöhnlichſte Lebens- §. 450. Dieſe durch die Sage an die urſprüngliche Stoffwelt angeknüpfte zweite1 1. Man hat ſchon von einer Romantik der Alten geſprochen, man 31*
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römiſcher Götter; wie die römiſche Religion für jede gewöhnlichſte Lebens-
ſphäre, für Städte, Plätze, Straßen, Bauchweh, Zahnweh ihren Gott,
ihre Göttinn hatte, ſo das Mittelalter ſeinen Heiligen oder ſeine Heilige.
Wunder aber geſchehen nicht nur an Menſchen, ſondern dieſe ſelbſt er-
ringen ſich die Wunderkraft. Wie es der Zuſammenfluß aller alten Re-
ligionen in Rom iſt, woraus der neue Olymp des Chriſtenthums ſich
geſchichtlich erklärt, ſo iſt es der furchtbare Zauber-Unfug, der ebenda-
ſelbſt in den letzten Zeiten der Auflöſung ſich angeſammelt, welcher in
die neue Religion überging. Mit göttlicher oder dämoniſcher Kraft aus-
gerüſtet kann der Menſch ein hölzernes Eiſen machen. Die Natur iſt
nichts weniger, als entgöttert, alte Götter, Halbgötter ſpucken hinter jedem
Buſch. Faunen ſind Teufel geworden, Hekate des Teufels Großmutter,
Frau Holle, Waldweibchen, Zwerge, Elfen, Pilwitze, Schrätelin, Nixen,
Feen, Rieſen huſchen, wühlen, hämmern, flackern, ſchweben, toben durch
alle Elemente und Naturreiche. Es iſt eine nur verbleichte, ſchattenhaft,
geiſterhaft gewordene Vielgötterei.
§. 450.
Dieſe durch die Sage an die urſprüngliche Stoffwelt angeknüpfte zweite
Stoffwelt unterſcheidet ſich aber von der antiken dadurch, daß ihr ein neues
Herz eingeſetzt iſt. Der Geiſt der innern, durch die Brechung der Sinnlichkeit
und des Eigenwillens ſich vermittelnden Unendlichkeit gibt den vertieften Seelen-
blick der Liebe den guten, einen Abgrund geiſtiger Furchtbarkeit den böſen
Mächten und dem Gott als Richter des Böſen. Die übermenſchlichen Geſtalten
ſind als jenſeitig vorgeſtellt, aber ihr Ausdruck und ihr Thun hebt die Jenſei-
tigkeit auf, von der Erde aus als einem Jammerthal kommt der wirkliche
Menſch, die äußere Natur in ſeinem Gefühle mitbegreifend, im Liebestauſche
der Sehnſucht ſeinen Göttern entgegen und feiert im gebrochenen Herzen ſeine
myſtiſche Vermählung mit ihnen. Alle dieſe Züge faſſen ſich im Begriffe der
phantaſtiſchen Subjectivität zuſammen.
1. Man hat ſchon von einer Romantik der Alten geſprochen, man
könnte ebenſogut von einer Claſſicität des Mittelalters ſprechen. Die
Wahrheit iſt, daß das Mittelalter einen gleichen Vorrath tranſcendenter,
über- und außermenſchlicher Geſtalten hat, wie das Alterthum; nur der
ganze Geiſt iſt ein anderer, ſie blicken, ſie reden, ſie handeln anders. Helios
wendet den Sonnenwagen bei der Schauderthat des Atreus, ebenſo ver-
hüllt bei Shakesſpeare die Sonne ihr Angeſicht vor dem blutigen Morde;
aber dort iſt Alles plaſtiſch, hier gefühlt. Zeus ſchickt den Griechen den
Hagel, Apollo die Peſt, den Chriſten beides der Teufel: mythiſch iſt dieß
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