Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewissen Sinn nahe an die Aufstellung des ironischen Gesetzes: das Häßliche ist schön. Gälte dieß Gesetz ohne Einschränkung, so wäre natürlich alles Aesthetische ver- nichtet, allein dieß ist nicht der Fall, denn die innere Schönheit verbessert, widerlegt ja in diesem Ideal die Mängel der Form im engern Sinne. Die Seelenschönheit wäre aber nicht Schönheit, wenn sie nicht auch er- schiene; sie erscheint nur anderswo, als in dem Körper, sofern er schönes Gewächse ist, sie erscheint in der Magie des Ausdrucks. Dieß rettet aller- dings die ästhetische Geltung des romantischen Ideals. Allein es bleibt dennoch ein Bruch, ohne einen Rest von Barbarei geht es nicht ab. Der §. unterscheidet "Kreuzigung des Fleisches bis zu peinlicher Häßlichkeit" und "Gedrücktheit und Weltlosigkeit der Erscheinung überhaupt;" das Erstere bezeichnet mehr den eigentlich ascetischen Ausdruck mit seiner Magerkeit und traurigen Verzehrung aller Fülle leiblichen Daseins, die schauderhaften Stoffe, welche die Abhängigkeit der Phantasie von der Religion in dieser Richtung liebt, jene henkermäßigen Darstellungen des Leidens Christi und der Märtyrer; das Zweite die Blödigkeit, Unfreiheit, den Bann, der selbst auf den Gestalten aus dem mehr weltlichen Kreise liegt, den Ausdruck prinzipiell festgehaltener Unmündigkeit, deren höchste Pflicht ist, den Pfaf- fen zu gehorchen, und höchstes Verdienst, ein Leben voll Thaten im Klo- ster zu beschließen. Ueber die Aristokratie der Gestalt, welche dadurch, der demokratischen Berechtigung der Individualität zum Trotz, auch in die- sem Ideale herrscht, kann nun auf die Anm. zu §. 62. verwiesen werden.
§. 457.
Beide in §. 455 unterschiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel- ches mit der Eigenheit der Individualität in dieses Ideal eindringt, können er- haben oder komisch sein. Die romantische Phantasie verfolgt, während sie auch das einfach Schöne zum vollen Zauber seelenvoller Anmuth vertieft, das Erhabene in neue Tiefen des unendlichen Leidens, der innerlichsten Empörung des Bösen, aber auch der höchsten Verklärung; die weltlose Innerlichkeit schließt jedoch den wahren Prozeß des Tragischen aus. Auch das Komische hat, ohne zwar die Form der Posse ganz zu verlassen, den Boden seiner tiefe- ren Formen durch die Einkehr des Subjects in sich betreten.
Man darf nicht meinen, der Ueberschuß der Idee über die Erschei- nung, worauf dieses ganze Ideal ruht, bestimme dasselbe überhaupt zu einem Ideal der Erhabenheit. Es handelt sich hier von einer geschichtli- chen Form des Schönen, welche durch eine Summe von Bedingungen,
Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewiſſen Sinn nahe an die Aufſtellung des ironiſchen Geſetzes: das Häßliche iſt ſchön. Gälte dieß Geſetz ohne Einſchränkung, ſo wäre natürlich alles Aeſthetiſche ver- nichtet, allein dieß iſt nicht der Fall, denn die innere Schönheit verbeſſert, widerlegt ja in dieſem Ideal die Mängel der Form im engern Sinne. Die Seelenſchönheit wäre aber nicht Schönheit, wenn ſie nicht auch er- ſchiene; ſie erſcheint nur anderswo, als in dem Körper, ſofern er ſchönes Gewächſe iſt, ſie erſcheint in der Magie des Ausdrucks. Dieß rettet aller- dings die äſthetiſche Geltung des romantiſchen Ideals. Allein es bleibt dennoch ein Bruch, ohne einen Reſt von Barbarei geht es nicht ab. Der §. unterſcheidet „Kreuzigung des Fleiſches bis zu peinlicher Häßlichkeit“ und „Gedrücktheit und Weltloſigkeit der Erſcheinung überhaupt;“ das Erſtere bezeichnet mehr den eigentlich aſcetiſchen Ausdruck mit ſeiner Magerkeit und traurigen Verzehrung aller Fülle leiblichen Daſeins, die ſchauderhaften Stoffe, welche die Abhängigkeit der Phantaſie von der Religion in dieſer Richtung liebt, jene henkermäßigen Darſtellungen des Leidens Chriſti und der Märtyrer; das Zweite die Blödigkeit, Unfreiheit, den Bann, der ſelbſt auf den Geſtalten aus dem mehr weltlichen Kreiſe liegt, den Ausdruck prinzipiell feſtgehaltener Unmündigkeit, deren höchſte Pflicht iſt, den Pfaf- fen zu gehorchen, und höchſtes Verdienſt, ein Leben voll Thaten im Klo- ſter zu beſchließen. Ueber die Ariſtokratie der Geſtalt, welche dadurch, der demokratiſchen Berechtigung der Individualität zum Trotz, auch in die- ſem Ideale herrſcht, kann nun auf die Anm. zu §. 62. verwieſen werden.
§. 457.
Beide in §. 455 unterſchiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel- ches mit der Eigenheit der Individualität in dieſes Ideal eindringt, können er- haben oder komiſch ſein. Die romantiſche Phantaſie verfolgt, während ſie auch das einfach Schöne zum vollen Zauber ſeelenvoller Anmuth vertieft, das Erhabene in neue Tiefen des unendlichen Leidens, der innerlichſten Empörung des Böſen, aber auch der höchſten Verklärung; die weltloſe Innerlichkeit ſchließt jedoch den wahren Prozeß des Tragiſchen aus. Auch das Komiſche hat, ohne zwar die Form der Poſſe ganz zu verlaſſen, den Boden ſeiner tiefe- ren Formen durch die Einkehr des Subjects in ſich betreten.
Man darf nicht meinen, der Ueberſchuß der Idee über die Erſchei- nung, worauf dieſes ganze Ideal ruht, beſtimme daſſelbe überhaupt zu einem Ideal der Erhabenheit. Es handelt ſich hier von einer geſchichtli- chen Form des Schönen, welche durch eine Summe von Bedingungen,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><pbfacs="#f0199"n="485"/><p><hirendition="#et">Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewiſſen Sinn nahe an<lb/>
die Aufſtellung des ironiſchen Geſetzes: das Häßliche iſt ſchön. Gälte<lb/>
dieß Geſetz ohne Einſchränkung, ſo wäre natürlich alles Aeſthetiſche ver-<lb/>
nichtet, allein dieß iſt nicht der Fall, denn die innere Schönheit verbeſſert,<lb/>
widerlegt ja in dieſem Ideal die Mängel der Form im engern Sinne.<lb/>
Die Seelenſchönheit wäre aber nicht Schönheit, wenn ſie nicht auch er-<lb/>ſchiene; ſie erſcheint nur anderswo, als in dem Körper, ſofern er ſchönes<lb/>
Gewächſe iſt, ſie erſcheint in der Magie des Ausdrucks. Dieß rettet aller-<lb/>
dings die äſthetiſche Geltung des romantiſchen Ideals. Allein es bleibt<lb/>
dennoch ein Bruch, ohne einen Reſt von Barbarei geht es nicht ab. Der<lb/>
§. unterſcheidet „Kreuzigung des Fleiſches bis zu peinlicher Häßlichkeit“<lb/>
und „Gedrücktheit und Weltloſigkeit der Erſcheinung überhaupt;“ das Erſtere<lb/>
bezeichnet mehr den eigentlich aſcetiſchen Ausdruck mit ſeiner Magerkeit<lb/>
und traurigen Verzehrung aller Fülle leiblichen Daſeins, die ſchauderhaften<lb/>
Stoffe, welche die Abhängigkeit der Phantaſie von der Religion in dieſer<lb/>
Richtung liebt, jene henkermäßigen Darſtellungen des Leidens Chriſti und<lb/>
der Märtyrer; das Zweite die Blödigkeit, Unfreiheit, den Bann, der ſelbſt<lb/>
auf den Geſtalten aus dem mehr weltlichen Kreiſe liegt, den Ausdruck<lb/>
prinzipiell feſtgehaltener Unmündigkeit, deren höchſte Pflicht iſt, den Pfaf-<lb/>
fen zu gehorchen, und höchſtes Verdienſt, ein Leben voll Thaten im Klo-<lb/>ſter zu beſchließen. Ueber die Ariſtokratie der Geſtalt, welche dadurch,<lb/>
der demokratiſchen Berechtigung der Individualität zum Trotz, auch in die-<lb/>ſem Ideale herrſcht, kann nun auf die Anm. zu §. 62. verwieſen werden.</hi></p></div><lb/><divn="5"><head>§. 457.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Beide in §. 455 unterſchiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel-<lb/>
ches mit der Eigenheit der Individualität in dieſes Ideal eindringt, können <hirendition="#g">er-<lb/>
haben</hi> oder <hirendition="#g">komiſch</hi>ſein. Die romantiſche Phantaſie verfolgt, während ſie<lb/>
auch das einfach Schöne zum vollen Zauber ſeelenvoller Anmuth vertieft, das<lb/>
Erhabene in neue Tiefen des unendlichen Leidens, der innerlichſten Empörung<lb/>
des Böſen, aber auch der höchſten Verklärung; die weltloſe Innerlichkeit<lb/>ſchließt jedoch den wahren Prozeß des Tragiſchen aus. Auch das Komiſche<lb/>
hat, ohne zwar die Form der Poſſe ganz zu verlaſſen, den Boden ſeiner tiefe-<lb/>
ren Formen durch die Einkehr des Subjects in ſich betreten.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Man darf nicht meinen, der Ueberſchuß der Idee über die Erſchei-<lb/>
nung, worauf dieſes ganze Ideal ruht, beſtimme daſſelbe überhaupt zu<lb/>
einem Ideal der Erhabenheit. Es handelt ſich hier von einer geſchichtli-<lb/>
chen Form des Schönen, welche durch eine Summe von Bedingungen,<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[485/0199]
Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewiſſen Sinn nahe an
die Aufſtellung des ironiſchen Geſetzes: das Häßliche iſt ſchön. Gälte
dieß Geſetz ohne Einſchränkung, ſo wäre natürlich alles Aeſthetiſche ver-
nichtet, allein dieß iſt nicht der Fall, denn die innere Schönheit verbeſſert,
widerlegt ja in dieſem Ideal die Mängel der Form im engern Sinne.
Die Seelenſchönheit wäre aber nicht Schönheit, wenn ſie nicht auch er-
ſchiene; ſie erſcheint nur anderswo, als in dem Körper, ſofern er ſchönes
Gewächſe iſt, ſie erſcheint in der Magie des Ausdrucks. Dieß rettet aller-
dings die äſthetiſche Geltung des romantiſchen Ideals. Allein es bleibt
dennoch ein Bruch, ohne einen Reſt von Barbarei geht es nicht ab. Der
§. unterſcheidet „Kreuzigung des Fleiſches bis zu peinlicher Häßlichkeit“
und „Gedrücktheit und Weltloſigkeit der Erſcheinung überhaupt;“ das Erſtere
bezeichnet mehr den eigentlich aſcetiſchen Ausdruck mit ſeiner Magerkeit
und traurigen Verzehrung aller Fülle leiblichen Daſeins, die ſchauderhaften
Stoffe, welche die Abhängigkeit der Phantaſie von der Religion in dieſer
Richtung liebt, jene henkermäßigen Darſtellungen des Leidens Chriſti und
der Märtyrer; das Zweite die Blödigkeit, Unfreiheit, den Bann, der ſelbſt
auf den Geſtalten aus dem mehr weltlichen Kreiſe liegt, den Ausdruck
prinzipiell feſtgehaltener Unmündigkeit, deren höchſte Pflicht iſt, den Pfaf-
fen zu gehorchen, und höchſtes Verdienſt, ein Leben voll Thaten im Klo-
ſter zu beſchließen. Ueber die Ariſtokratie der Geſtalt, welche dadurch,
der demokratiſchen Berechtigung der Individualität zum Trotz, auch in die-
ſem Ideale herrſcht, kann nun auf die Anm. zu §. 62. verwieſen werden.
§. 457.
Beide in §. 455 unterſchiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel-
ches mit der Eigenheit der Individualität in dieſes Ideal eindringt, können er-
haben oder komiſch ſein. Die romantiſche Phantaſie verfolgt, während ſie
auch das einfach Schöne zum vollen Zauber ſeelenvoller Anmuth vertieft, das
Erhabene in neue Tiefen des unendlichen Leidens, der innerlichſten Empörung
des Böſen, aber auch der höchſten Verklärung; die weltloſe Innerlichkeit
ſchließt jedoch den wahren Prozeß des Tragiſchen aus. Auch das Komiſche
hat, ohne zwar die Form der Poſſe ganz zu verlaſſen, den Boden ſeiner tiefe-
ren Formen durch die Einkehr des Subjects in ſich betreten.
Man darf nicht meinen, der Ueberſchuß der Idee über die Erſchei-
nung, worauf dieſes ganze Ideal ruht, beſtimme daſſelbe überhaupt zu
einem Ideal der Erhabenheit. Es handelt ſich hier von einer geſchichtli-
chen Form des Schönen, welche durch eine Summe von Bedingungen,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/199>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.