Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
furchtbarer Art; überhaupt aber hat das Komische nun den Boden ge- §. 458. Unter den in §. 404 aufgeführten Arten ist es die empfindende1
furchtbarer Art; überhaupt aber hat das Komiſche nun den Boden ge- §. 458. Unter den in §. 404 aufgeführten Arten iſt es die empfindende1 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0201" n="487"/> furchtbarer Art; überhaupt aber hat das Komiſche nun den Boden ge-<lb/> funden, wo ſeine tieferen Schätze liegen. Sie dringen ein mit der frei-<lb/> gelaſſenen Eigenheit der Individualität, der innere Widerſpruch iſt aufge-<lb/> than auch im guten Menſchen durch das aufgegangene Bewußtſein der<lb/> Unangemeſſenheit ſeiner Erſcheinung und der ganzen Naturſeite ſeines<lb/> Geiſtes zu ſeinem idealen Selbſt. Im religiöſen Kreiſe ſelbſt herrſcht<lb/> eine witzige Ironie: die Naturgeſetze und irdiſchen Zwecke ſind Schein,<lb/> ſchlagen in ihr Gegentheil um; im weltlichen darf man nur an einen<lb/> Parzival, den „Tumbe-Klaren“ erinnern, deſſen herrliches Gemüth über<lb/> ſeine eigene Erſcheinung ſtolpert. Die Form aber bleibt immer ſinnlich,<lb/> Faſtnacht-, Hanswurſtartig, auch wo die Komik den höchſten Gehalt er-<lb/> greift, und zugleich hiemit iſt auch ausgeſprochen, daß die nun zugänglichen<lb/> Quellen des Komiſchen keineswegs ganz erſchöpft werden. Es fehlt die<lb/> Ausbildung des Weltlichen und der Reflexion. Ebendieß iſt nun auch<lb/> der Grund, warum in dieſer Phantaſie noch kein Raum ſich findet, das<lb/> Schickſal als die dialektiſche Macht im Wirklichen zur Darſtellung zu<lb/> bringen. Die Griechen konnten dem Tragiſchen dieſe wahre Geſtalt ge-<lb/> ben, weil ihre Götterwelt Abbild einer ganzen und vollen, einer mün-<lb/> digen, politiſchen Menſchenwelt war und weil ſie in ihrer Schickſals-Idee<lb/> hinter die Götter ſelbſt zurückgriffen, wo ſie denn die Menſchenwelt<lb/> und das Schickſal als ſeine Macht in Eins zuſammenfaßten. Im Mit-<lb/> telalter dagegen wird von der Menſchenwelt nur das Gemüthsleben her-<lb/> ausgenommen und in die Götter gelegt, hinter dieſe zurückzugreifen in die<lb/> immanente Idee der Weltordnung dazu fehlt noch die Helle des Geiſtes:<lb/> daher machen die Götter das Loos des Menſchen in ihrem Jenſeits ab,<lb/> er hat das Zuſehen. Alſo iſt keine Tragödie möglich, und weil es kein<lb/> Schickſal gibt, auch keine Befreiung von ihm, keine Komödie.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 458.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Unter den in §. 404 aufgeführten Arten iſt es die <hi rendition="#g">empfindende</hi><note place="right">1</note><lb/> Phantaſie, worauf das Mittelalter durch ſeine Grundſtimmung angewieſen iſt,<lb/> doch nicht mit der Einſchränkung wie die jüdiſche (§. 433, <hi rendition="#sub">3.</hi>), ſondern ſo, daß<lb/> ſie zugleich in gewiſſen Sphären der bildenden heimiſch dieſe im Geiſte der<lb/> empfindenden behandelt. Beſonders im meſſenden Sehen wird ſie die Sehn-<note place="right">2</note><lb/> ſucht des Gefühls ausdrücken, für das taſtende ſo gut als gar nicht, für das<lb/> eigentliche Sehen dagegen vorzüglich beſtimmt ſein, als dichtende Phantaſie<note place="right">3</note><lb/> aber wird ſie, gemäß dieſen Bedingungen wirkend, am wenigſten zu derjenigen<lb/> Unterart berufen ſein, welche das empfindende Innere zu freier Einheit mit<lb/> dem Standpunkte der bildenden Auffaſſung fortführt.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [487/0201]
furchtbarer Art; überhaupt aber hat das Komiſche nun den Boden ge-
funden, wo ſeine tieferen Schätze liegen. Sie dringen ein mit der frei-
gelaſſenen Eigenheit der Individualität, der innere Widerſpruch iſt aufge-
than auch im guten Menſchen durch das aufgegangene Bewußtſein der
Unangemeſſenheit ſeiner Erſcheinung und der ganzen Naturſeite ſeines
Geiſtes zu ſeinem idealen Selbſt. Im religiöſen Kreiſe ſelbſt herrſcht
eine witzige Ironie: die Naturgeſetze und irdiſchen Zwecke ſind Schein,
ſchlagen in ihr Gegentheil um; im weltlichen darf man nur an einen
Parzival, den „Tumbe-Klaren“ erinnern, deſſen herrliches Gemüth über
ſeine eigene Erſcheinung ſtolpert. Die Form aber bleibt immer ſinnlich,
Faſtnacht-, Hanswurſtartig, auch wo die Komik den höchſten Gehalt er-
greift, und zugleich hiemit iſt auch ausgeſprochen, daß die nun zugänglichen
Quellen des Komiſchen keineswegs ganz erſchöpft werden. Es fehlt die
Ausbildung des Weltlichen und der Reflexion. Ebendieß iſt nun auch
der Grund, warum in dieſer Phantaſie noch kein Raum ſich findet, das
Schickſal als die dialektiſche Macht im Wirklichen zur Darſtellung zu
bringen. Die Griechen konnten dem Tragiſchen dieſe wahre Geſtalt ge-
ben, weil ihre Götterwelt Abbild einer ganzen und vollen, einer mün-
digen, politiſchen Menſchenwelt war und weil ſie in ihrer Schickſals-Idee
hinter die Götter ſelbſt zurückgriffen, wo ſie denn die Menſchenwelt
und das Schickſal als ſeine Macht in Eins zuſammenfaßten. Im Mit-
telalter dagegen wird von der Menſchenwelt nur das Gemüthsleben her-
ausgenommen und in die Götter gelegt, hinter dieſe zurückzugreifen in die
immanente Idee der Weltordnung dazu fehlt noch die Helle des Geiſtes:
daher machen die Götter das Loos des Menſchen in ihrem Jenſeits ab,
er hat das Zuſehen. Alſo iſt keine Tragödie möglich, und weil es kein
Schickſal gibt, auch keine Befreiung von ihm, keine Komödie.
§. 458.
Unter den in §. 404 aufgeführten Arten iſt es die empfindende
Phantaſie, worauf das Mittelalter durch ſeine Grundſtimmung angewieſen iſt,
doch nicht mit der Einſchränkung wie die jüdiſche (§. 433, 3.), ſondern ſo, daß
ſie zugleich in gewiſſen Sphären der bildenden heimiſch dieſe im Geiſte der
empfindenden behandelt. Beſonders im meſſenden Sehen wird ſie die Sehn-
ſucht des Gefühls ausdrücken, für das taſtende ſo gut als gar nicht, für das
eigentliche Sehen dagegen vorzüglich beſtimmt ſein, als dichtende Phantaſie
aber wird ſie, gemäß dieſen Bedingungen wirkend, am wenigſten zu derjenigen
Unterart berufen ſein, welche das empfindende Innere zu freier Einheit mit
dem Standpunkte der bildenden Auffaſſung fortführt.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |