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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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festhalten und mißhandeln; darin haben sie nur negative Bedeutung: im
Kampf gegen diese welsche Sinnlichkeit und die Lüge ihrer devoten Stoffe
sollte das neue Ideal erstarken. Das Positive in ihrem Berufe bleibt
hier im Ganzen nur, daß die wahre, die gesunde Phantasie an den Rest
des freieren und gewandteren Formsinns, den sie in allem Verfalle be-
wahrten, an das Form-Element in ihrem Charakter überhaupt, an die
geniale Lust, die im italienischen Wesen immer weht, sollte anknüpfen können.

§. 474.

Inzwischen ist die Phantasie des deutschen Volkes in Unthätigkeit ver-
sunken. Zwei glücklichere benachbarte Völker, die germanischen Holländer und
die germanisch romanischen Belgier führen in kräftiger Regung der bildenden
Phantasie, die zur wahren Formthätigkeit im eigentlichen Sehen fortschreitet und
das ruhige Ebenmaaß, welches das tastende Sehen fordert, entschlossen aufgibt,
jene Anfänge (§. 471) weiter, theilen sich aber in die Aufgabe so, daß jene
die landschaftliche Schönheit zu individuellem Ausdruck und selbständiger Gel-
tung fortbilden, die thierische voll Natursinn ergreifen, die menschliche nur in
dem engen Kreise freien Volksbehagens unter anspruchlos derben oder gebildeteren,
an subjectivem Leben reicheren Culturformen belauschen, diese aber eine Welt
entfesselter individueller Kräfte, feuriger Sinnlichkeit und Leidenschaft, jedoch
mit Vorliebe unter der Form allegorisch gewordener Mythen darstellen.

Es rückt durch die Holländer und Belgier ein großer und neuer
Umfang von Stoffen in das Ideal ein; diese Stoffe sind hier in Kürze
bezeichnet. Aber nicht als solche sind sie hier wichtig, sondern die Auf-
fassung ist es, die uns nun beschäftigt. Sie ist der Grund, warum nur
diese und keine andern Stoffe und warum sie so und nicht anders behan-
delt werden. Der §. sagt, daß bei diesen Volksstämmen nun erst das
eigentlich malerische Auge sich ausbildet; mit diesem Auge erfassen sie,
was ihnen ihre Stoffwelt zeigt und brechen völlig mit dem plastischen
Formgefühl. Die Formen der Holländer sind bäurisch grob, aber da muß
man die Wirkung im Licht- und Farbenschein und in der zufriedenen Ko-
mik eines mäßigen Humors suchen, oder sie sind feiner und gebildeter,
doch immer ohne die Idealität der plastisch antiken Grazie und so, daß
die geheime Welt feiner Motive des geselligen Privatlebens es ist, wel-
cher die Phantasie nachgeht. Mit dieser Art von Phantasie warfen sie
sich nun ganz auf das Genre, dem sie zuerst sein eigentliches selbständiges
Dasein sichern; ihre Geschichte hätte ihnen noch ganz andere Stoffe ge-
geben (vergl. §. 368, 3.), theils aber waren diese nicht zeitlich entfernt
genug, theils war das Volk zum heroischen Schwung im ästhetischen Ge-

feſthalten und mißhandeln; darin haben ſie nur negative Bedeutung: im
Kampf gegen dieſe welſche Sinnlichkeit und die Lüge ihrer devoten Stoffe
ſollte das neue Ideal erſtarken. Das Poſitive in ihrem Berufe bleibt
hier im Ganzen nur, daß die wahre, die geſunde Phantaſie an den Reſt
des freieren und gewandteren Formſinns, den ſie in allem Verfalle be-
wahrten, an das Form-Element in ihrem Charakter überhaupt, an die
geniale Luſt, die im italieniſchen Weſen immer weht, ſollte anknüpfen können.

§. 474.

Inzwiſchen iſt die Phantaſie des deutſchen Volkes in Unthätigkeit ver-
ſunken. Zwei glücklichere benachbarte Völker, die germaniſchen Holländer und
die germaniſch romaniſchen Belgier führen in kräftiger Regung der bildenden
Phantaſie, die zur wahren Formthätigkeit im eigentlichen Sehen fortſchreitet und
das ruhige Ebenmaaß, welches das taſtende Sehen fordert, entſchloſſen aufgibt,
jene Anfänge (§. 471) weiter, theilen ſich aber in die Aufgabe ſo, daß jene
die landſchaftliche Schönheit zu individuellem Ausdruck und ſelbſtändiger Gel-
tung fortbilden, die thieriſche voll Naturſinn ergreifen, die menſchliche nur in
dem engen Kreiſe freien Volksbehagens unter anſpruchlos derben oder gebildeteren,
an ſubjectivem Leben reicheren Culturformen belauſchen, dieſe aber eine Welt
entfeſſelter individueller Kräfte, feuriger Sinnlichkeit und Leidenſchaft, jedoch
mit Vorliebe unter der Form allegoriſch gewordener Mythen darſtellen.

Es rückt durch die Holländer und Belgier ein großer und neuer
Umfang von Stoffen in das Ideal ein; dieſe Stoffe ſind hier in Kürze
bezeichnet. Aber nicht als ſolche ſind ſie hier wichtig, ſondern die Auf-
faſſung iſt es, die uns nun beſchäftigt. Sie iſt der Grund, warum nur
dieſe und keine andern Stoffe und warum ſie ſo und nicht anders behan-
delt werden. Der §. ſagt, daß bei dieſen Volksſtämmen nun erſt das
eigentlich maleriſche Auge ſich ausbildet; mit dieſem Auge erfaſſen ſie,
was ihnen ihre Stoffwelt zeigt und brechen völlig mit dem plaſtiſchen
Formgefühl. Die Formen der Holländer ſind bäuriſch grob, aber da muß
man die Wirkung im Licht- und Farbenſchein und in der zufriedenen Ko-
mik eines mäßigen Humors ſuchen, oder ſie ſind feiner und gebildeter,
doch immer ohne die Idealität der plaſtiſch antiken Grazie und ſo, daß
die geheime Welt feiner Motive des geſelligen Privatlebens es iſt, wel-
cher die Phantaſie nachgeht. Mit dieſer Art von Phantaſie warfen ſie
ſich nun ganz auf das Genre, dem ſie zuerſt ſein eigentliches ſelbſtändiges
Daſein ſichern; ihre Geſchichte hätte ihnen noch ganz andere Stoffe ge-
geben (vergl. §. 368, 3.), theils aber waren dieſe nicht zeitlich entfernt
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[510/0224] feſthalten und mißhandeln; darin haben ſie nur negative Bedeutung: im Kampf gegen dieſe welſche Sinnlichkeit und die Lüge ihrer devoten Stoffe ſollte das neue Ideal erſtarken. Das Poſitive in ihrem Berufe bleibt hier im Ganzen nur, daß die wahre, die geſunde Phantaſie an den Reſt des freieren und gewandteren Formſinns, den ſie in allem Verfalle be- wahrten, an das Form-Element in ihrem Charakter überhaupt, an die geniale Luſt, die im italieniſchen Weſen immer weht, ſollte anknüpfen können. §. 474. Inzwiſchen iſt die Phantaſie des deutſchen Volkes in Unthätigkeit ver- ſunken. Zwei glücklichere benachbarte Völker, die germaniſchen Holländer und die germaniſch romaniſchen Belgier führen in kräftiger Regung der bildenden Phantaſie, die zur wahren Formthätigkeit im eigentlichen Sehen fortſchreitet und das ruhige Ebenmaaß, welches das taſtende Sehen fordert, entſchloſſen aufgibt, jene Anfänge (§. 471) weiter, theilen ſich aber in die Aufgabe ſo, daß jene die landſchaftliche Schönheit zu individuellem Ausdruck und ſelbſtändiger Gel- tung fortbilden, die thieriſche voll Naturſinn ergreifen, die menſchliche nur in dem engen Kreiſe freien Volksbehagens unter anſpruchlos derben oder gebildeteren, an ſubjectivem Leben reicheren Culturformen belauſchen, dieſe aber eine Welt entfeſſelter individueller Kräfte, feuriger Sinnlichkeit und Leidenſchaft, jedoch mit Vorliebe unter der Form allegoriſch gewordener Mythen darſtellen. Es rückt durch die Holländer und Belgier ein großer und neuer Umfang von Stoffen in das Ideal ein; dieſe Stoffe ſind hier in Kürze bezeichnet. Aber nicht als ſolche ſind ſie hier wichtig, ſondern die Auf- faſſung iſt es, die uns nun beſchäftigt. Sie iſt der Grund, warum nur dieſe und keine andern Stoffe und warum ſie ſo und nicht anders behan- delt werden. Der §. ſagt, daß bei dieſen Volksſtämmen nun erſt das eigentlich maleriſche Auge ſich ausbildet; mit dieſem Auge erfaſſen ſie, was ihnen ihre Stoffwelt zeigt und brechen völlig mit dem plaſtiſchen Formgefühl. Die Formen der Holländer ſind bäuriſch grob, aber da muß man die Wirkung im Licht- und Farbenſchein und in der zufriedenen Ko- mik eines mäßigen Humors ſuchen, oder ſie ſind feiner und gebildeter, doch immer ohne die Idealität der plaſtiſch antiken Grazie und ſo, daß die geheime Welt feiner Motive des geſelligen Privatlebens es iſt, wel- cher die Phantaſie nachgeht. Mit dieſer Art von Phantaſie warfen ſie ſich nun ganz auf das Genre, dem ſie zuerſt ſein eigentliches ſelbſtändiges Daſein ſichern; ihre Geſchichte hätte ihnen noch ganz andere Stoffe ge- geben (vergl. §. 368, 3.), theils aber waren dieſe nicht zeitlich entfernt genug, theils war das Volk zum heroiſchen Schwung im äſthetiſchen Ge-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/224>, abgerufen am 23.11.2024.