Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

die sentimentale Grundstimmung von der Willkühr einer Gestaltlosigkeit heilt,
welche doppelt fühlbar ist, weil sie sich in der Form der bildend dichtenden
Phantasie ausspricht.

Dem Humor eines J. Paul fehlt Objectivität in doppeltem Sinne;
er verfolgt wohl die geheimsten Irrgänge des Wahnsinns, der in den
Widersprüchen der Subjectivität liegt, sofern sie in sich und in den
Kreis des engeren sozialen Lebens eingeschlossen lebt, aber den großen
Wahnsinn des öffentlichen Lebens, der Geschichte, des Staats sieht er
zwar, stellt ihn aber schroff und schrill neben die schöne Seele hin und
geht auf dieser Seite zu keiner Versöhnung fort. Allerdings gehört dieß
größere Schauspiel auch nicht in den Roman, in die Bildungsgeschichte
des Subjects, die er zur Aufgabe hat, aber die gewaltige Phantasie schafft
sich eben für den größeren Horizont auch die rechte Gattung. Allein es
ist noch ein anderer ästhetischer Mangel da: es kommt zu keiner gediege-
nen Form. Das humoristische Subject schiebt sich überall vor, man hat
das Gefühl, es sei mit dem Erzählen eigentlich gar nicht Ernst, es be-
schreibt komisch, statt Komisches zu beschreiben, der Gehalt der Persön-
lichkeit des dichtenden Subjects geht nie ganz in Gestaltung über, sieht
überall nackt durch die Ritzen hervor. Daher ist es Pferdearbeit, einen
Sterne, einen J. Paul zu lesen.

§. 481.

1

Der innerlich überfüllte, politisch abermals gehemmte Geist des deutschen
Volks (vergl. §. 375. 376) erzeugt noch eine Bewegung der Phantasie, worin
die Subjectivität, die in dieser Blüthezeit auf allen Punkten, wiewohl auf jedem
in anderer Weise, den rechten Uebergang zu einer realen Welt nicht finden
konnte und im Lichte der Aufklärung und reineren Classicität doch die schärferen
Züge und tieferen Verwicklungen der unendlichen Eigenheit der Individualität
verschwemmte, im Taumel der Betäubung sich zu befreien sucht, die traum-
artige Einbildungskraft zu ihrem formalen, die Wunderwelt des Mittel-
alters zu ihrem materialen Prinzip erhebt und mit ironischer Absichtlichkeit über
2ihrem farbenreichen und doch gestaltlosen Schattenspiele schwebt: eine Erscheinung,
die sich in den Humor der Zerrissenheit und dann in die Frivolität der Blasirt-
heit, jenes unter erneuter englischer Einwirkung, endlich in die eklektische All-
gemeinheit einer Aneignung aller fremden und dagewesenen Formen der Phan-
tasie aufhebt.

1. Die romantische Schule fand in dem neuen classischen Ideale
des deutschen Genius nicht Schatten und Farbe genug, ein zu reines, zu

die ſentimentale Grundſtimmung von der Willkühr einer Geſtaltloſigkeit heilt,
welche doppelt fühlbar iſt, weil ſie ſich in der Form der bildend dichtenden
Phantaſie ausſpricht.

Dem Humor eines J. Paul fehlt Objectivität in doppeltem Sinne;
er verfolgt wohl die geheimſten Irrgänge des Wahnſinns, der in den
Widerſprüchen der Subjectivität liegt, ſofern ſie in ſich und in den
Kreis des engeren ſozialen Lebens eingeſchloſſen lebt, aber den großen
Wahnſinn des öffentlichen Lebens, der Geſchichte, des Staats ſieht er
zwar, ſtellt ihn aber ſchroff und ſchrill neben die ſchöne Seele hin und
geht auf dieſer Seite zu keiner Verſöhnung fort. Allerdings gehört dieß
größere Schauſpiel auch nicht in den Roman, in die Bildungsgeſchichte
des Subjects, die er zur Aufgabe hat, aber die gewaltige Phantaſie ſchafft
ſich eben für den größeren Horizont auch die rechte Gattung. Allein es
iſt noch ein anderer äſthetiſcher Mangel da: es kommt zu keiner gediege-
nen Form. Das humoriſtiſche Subject ſchiebt ſich überall vor, man hat
das Gefühl, es ſei mit dem Erzählen eigentlich gar nicht Ernſt, es be-
ſchreibt komiſch, ſtatt Komiſches zu beſchreiben, der Gehalt der Perſön-
lichkeit des dichtenden Subjects geht nie ganz in Geſtaltung über, ſieht
überall nackt durch die Ritzen hervor. Daher iſt es Pferdearbeit, einen
Sterne, einen J. Paul zu leſen.

§. 481.

1

Der innerlich überfüllte, politiſch abermals gehemmte Geiſt des deutſchen
Volks (vergl. §. 375. 376) erzeugt noch eine Bewegung der Phantaſie, worin
die Subjectivität, die in dieſer Blüthezeit auf allen Punkten, wiewohl auf jedem
in anderer Weiſe, den rechten Uebergang zu einer realen Welt nicht finden
konnte und im Lichte der Aufklärung und reineren Claſſicität doch die ſchärferen
Züge und tieferen Verwicklungen der unendlichen Eigenheit der Individualität
verſchwemmte, im Taumel der Betäubung ſich zu befreien ſucht, die traum-
artige Einbildungskraft zu ihrem formalen, die Wunderwelt des Mittel-
alters zu ihrem materialen Prinzip erhebt und mit ironiſcher Abſichtlichkeit über
2ihrem farbenreichen und doch geſtaltloſen Schattenſpiele ſchwebt: eine Erſcheinung,
die ſich in den Humor der Zerriſſenheit und dann in die Frivolität der Blaſirt-
heit, jenes unter erneuter engliſcher Einwirkung, endlich in die eklektiſche All-
gemeinheit einer Aneignung aller fremden und dageweſenen Formen der Phan-
taſie aufhebt.

1. Die romantiſche Schule fand in dem neuen claſſiſchen Ideale
des deutſchen Genius nicht Schatten und Farbe genug, ein zu reines, zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0230" n="516"/>
die &#x017F;entimentale Grund&#x017F;timmung von der Willkühr einer Ge&#x017F;taltlo&#x017F;igkeit heilt,<lb/>
welche doppelt fühlbar i&#x017F;t, weil &#x017F;ie &#x017F;ich in der Form der bildend dichtenden<lb/>
Phanta&#x017F;ie aus&#x017F;pricht.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Dem Humor eines J. Paul fehlt Objectivität in doppeltem Sinne;<lb/>
er verfolgt wohl die geheim&#x017F;ten Irrgänge des Wahn&#x017F;inns, der in den<lb/>
Wider&#x017F;prüchen der Subjectivität liegt, &#x017F;ofern &#x017F;ie in &#x017F;ich und in den<lb/>
Kreis des engeren &#x017F;ozialen Lebens einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en lebt, aber den großen<lb/>
Wahn&#x017F;inn des öffentlichen Lebens, der Ge&#x017F;chichte, des Staats &#x017F;ieht er<lb/>
zwar, &#x017F;tellt ihn aber &#x017F;chroff und &#x017F;chrill neben die &#x017F;chöne Seele hin und<lb/>
geht auf die&#x017F;er Seite zu keiner Ver&#x017F;öhnung fort. Allerdings gehört dieß<lb/>
größere Schau&#x017F;piel auch nicht in den Roman, in die Bildungsge&#x017F;chichte<lb/>
des Subjects, die er zur Aufgabe hat, aber die gewaltige Phanta&#x017F;ie &#x017F;chafft<lb/>
&#x017F;ich eben für den größeren Horizont auch die rechte Gattung. Allein es<lb/>
i&#x017F;t noch ein anderer ä&#x017F;theti&#x017F;cher Mangel da: es kommt zu keiner gediege-<lb/>
nen Form. Das humori&#x017F;ti&#x017F;che Subject &#x017F;chiebt &#x017F;ich überall vor, man hat<lb/>
das Gefühl, es &#x017F;ei mit dem Erzählen eigentlich gar nicht Ern&#x017F;t, es be-<lb/>
&#x017F;chreibt komi&#x017F;ch, &#x017F;tatt Komi&#x017F;ches zu be&#x017F;chreiben, der Gehalt der Per&#x017F;ön-<lb/>
lichkeit des dichtenden Subjects geht nie ganz in Ge&#x017F;taltung über, &#x017F;ieht<lb/>
überall nackt durch die Ritzen hervor. Daher i&#x017F;t es Pferdearbeit, einen<lb/>
Sterne, einen J. Paul zu le&#x017F;en.</hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 481.</head><lb/>
                  <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note>
                  <p> <hi rendition="#fr">Der innerlich überfüllte, politi&#x017F;ch abermals gehemmte Gei&#x017F;t des deut&#x017F;chen<lb/>
Volks (vergl. §. 375. 376) erzeugt noch eine Bewegung der Phanta&#x017F;ie, worin<lb/>
die Subjectivität, die in die&#x017F;er Blüthezeit auf allen Punkten, wiewohl auf jedem<lb/>
in anderer Wei&#x017F;e, den rechten Uebergang zu einer realen Welt nicht finden<lb/>
konnte und im Lichte der Aufklärung und reineren Cla&#x017F;&#x017F;icität doch die &#x017F;chärferen<lb/>
Züge und tieferen Verwicklungen der unendlichen Eigenheit der Individualität<lb/>
ver&#x017F;chwemmte, im Taumel der Betäubung &#x017F;ich zu befreien &#x017F;ucht, die traum-<lb/>
artige Einbildungskraft zu ihrem formalen, die Wunderwelt des Mittel-<lb/>
alters zu ihrem materialen Prinzip erhebt und mit ironi&#x017F;cher Ab&#x017F;ichtlichkeit über<lb/><note place="left">2</note>ihrem farbenreichen und doch ge&#x017F;taltlo&#x017F;en Schatten&#x017F;piele &#x017F;chwebt: eine Er&#x017F;cheinung,<lb/>
die &#x017F;ich in den Humor der Zerri&#x017F;&#x017F;enheit und dann in die Frivolität der Bla&#x017F;irt-<lb/>
heit, jenes unter erneuter engli&#x017F;cher Einwirkung, endlich in die eklekti&#x017F;che All-<lb/>
gemeinheit einer Aneignung aller fremden und dagewe&#x017F;enen Formen der Phan-<lb/>
ta&#x017F;ie aufhebt.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">1. Die romanti&#x017F;che Schule fand in dem neuen cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Ideale<lb/>
des deut&#x017F;chen Genius nicht Schatten und Farbe genug, ein zu reines, zu<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[516/0230] die ſentimentale Grundſtimmung von der Willkühr einer Geſtaltloſigkeit heilt, welche doppelt fühlbar iſt, weil ſie ſich in der Form der bildend dichtenden Phantaſie ausſpricht. Dem Humor eines J. Paul fehlt Objectivität in doppeltem Sinne; er verfolgt wohl die geheimſten Irrgänge des Wahnſinns, der in den Widerſprüchen der Subjectivität liegt, ſofern ſie in ſich und in den Kreis des engeren ſozialen Lebens eingeſchloſſen lebt, aber den großen Wahnſinn des öffentlichen Lebens, der Geſchichte, des Staats ſieht er zwar, ſtellt ihn aber ſchroff und ſchrill neben die ſchöne Seele hin und geht auf dieſer Seite zu keiner Verſöhnung fort. Allerdings gehört dieß größere Schauſpiel auch nicht in den Roman, in die Bildungsgeſchichte des Subjects, die er zur Aufgabe hat, aber die gewaltige Phantaſie ſchafft ſich eben für den größeren Horizont auch die rechte Gattung. Allein es iſt noch ein anderer äſthetiſcher Mangel da: es kommt zu keiner gediege- nen Form. Das humoriſtiſche Subject ſchiebt ſich überall vor, man hat das Gefühl, es ſei mit dem Erzählen eigentlich gar nicht Ernſt, es be- ſchreibt komiſch, ſtatt Komiſches zu beſchreiben, der Gehalt der Perſön- lichkeit des dichtenden Subjects geht nie ganz in Geſtaltung über, ſieht überall nackt durch die Ritzen hervor. Daher iſt es Pferdearbeit, einen Sterne, einen J. Paul zu leſen. §. 481. Der innerlich überfüllte, politiſch abermals gehemmte Geiſt des deutſchen Volks (vergl. §. 375. 376) erzeugt noch eine Bewegung der Phantaſie, worin die Subjectivität, die in dieſer Blüthezeit auf allen Punkten, wiewohl auf jedem in anderer Weiſe, den rechten Uebergang zu einer realen Welt nicht finden konnte und im Lichte der Aufklärung und reineren Claſſicität doch die ſchärferen Züge und tieferen Verwicklungen der unendlichen Eigenheit der Individualität verſchwemmte, im Taumel der Betäubung ſich zu befreien ſucht, die traum- artige Einbildungskraft zu ihrem formalen, die Wunderwelt des Mittel- alters zu ihrem materialen Prinzip erhebt und mit ironiſcher Abſichtlichkeit über ihrem farbenreichen und doch geſtaltloſen Schattenſpiele ſchwebt: eine Erſcheinung, die ſich in den Humor der Zerriſſenheit und dann in die Frivolität der Blaſirt- heit, jenes unter erneuter engliſcher Einwirkung, endlich in die eklektiſche All- gemeinheit einer Aneignung aller fremden und dageweſenen Formen der Phan- taſie aufhebt. 1. Die romantiſche Schule fand in dem neuen claſſiſchen Ideale des deutſchen Genius nicht Schatten und Farbe genug, ein zu reines, zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/230
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/230>, abgerufen am 27.11.2024.