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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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dünnes Licht. Sie hatte Recht in mehrerlei Sinn. Erstens: Göthe stieg
zwar tief genug in die Bildungskämpfe des subjectiven Seelenlebens, run-
dete aber seine Bilder zu einer Grazie der Humanität ab, worin die här-
teren Kanten der Individualität und ihrer unendlichen Eigenheit zwar
nicht ebenso, aber doch auf ähnliche Weise verschwemmt wurden, wie das
antike Ideal sie vom reinen Ebenmaaße seiner plastischen Gestalten als
ebensoviele Ansätze zu einer für ihren Standpunkt allzu herben Komik
ausschließen mußte. Konnte er doch Mercutio und die Amme in Romeo
und Julie als possenhafte Intermezzisten ansehen! Dieß hing freilich
auch mit seinen Stoffen zusammen; wer sich die Aufgabe setzt, den sozia-
len Menschen auf den Irrgängen seiner Bildung zur Gemüthsruhe und
harmonischen Thätigkeit zu begleiten, der muß die rauheren Ecken und
gröbere Ausladung des Menschen scheuen, welcher auf großem Schauplatze
handelt. Doch glättete Göthes milde Hand auch viele der schärferen
Falten, die sich nicht minder auf der Stirne des nur mit sich und seiner Er-
ziehung für die Gesellschaft beschäftigten Menschen graben. Also in doppeltem
Sinne zu wenig Schatten und Farbe, theils in der Art der Behandlung
des ergriffenen Stoffs, theils in der Beschränkung auf diesen Stoff be-
gründet. Schiller führte zwar den Menschen hinaus in das Feld der
politischen Bewegung und That, aber auch er lernte in der Schule der
Alten jene Planheit und Generalität des Pathos, welche das Individuelle
nicht in seinem vollen Umfang aufnimmt, den Charakter nicht in die
scheinbar widersprechenden Verwicklungen seiner intensiven Eigenheit ver-
folgt, und dazu kam dann überdieß jene Einmischung seiner Subjectivität
in den Stoff, welche dem dargestellten Charakter die eigenen, nicht in Phan-
tasie rein aufgegangenen auf ein abstractes, moralisirendes Denken ge-
gründeten Ideen unterschob. Also auch hier zu weißes Licht. J. Paul
brach freilich die Subjectivität in einem bunteren Prisma, aber er wußte
nicht alle Gegensätze, die er aufstellte, auch zu versöhnen, und dieß kam
daher, daß seine Sentimentalität schließlich auch auf wenige abstracte
Ideen (Unsterblichkeit u. s. w.) sich reduzirte, mit denen die Subjectivität
nichts anzufangen weiß, wenn es gilt, die reale Welt zu ertragen, zu
beherrschen; den Schmerz über diese Kluft hat er freilich farbenreich dar-
gestellt, aber nimmt man seinen Gestalten diese Strahlenbrechung, so
bleiben dünne, flache, fleischlose, in Wasserfarben gemalte Ideale zurück.
Der innere Widerspruch, aus dem der Humor fließt, hat zum Theil seinen
Grund gerade darin, daß die reichen Kräfte der concreten Subjectivität
aus diesen flachen Idealen sich nicht nähren, nicht zur wahren, in die
That übergehenden Erfüllung gelangen können. Alle diese Mängel zei-
gen denn zunächst eine überschwängerte Subjectivität, welche ihre Gestal-
ten nicht in's volle Leben taucht. Man kann dieß auch Aufklärung nennen,

dünnes Licht. Sie hatte Recht in mehrerlei Sinn. Erſtens: Göthe ſtieg
zwar tief genug in die Bildungskämpfe des ſubjectiven Seelenlebens, run-
dete aber ſeine Bilder zu einer Grazie der Humanität ab, worin die här-
teren Kanten der Individualität und ihrer unendlichen Eigenheit zwar
nicht ebenſo, aber doch auf ähnliche Weiſe verſchwemmt wurden, wie das
antike Ideal ſie vom reinen Ebenmaaße ſeiner plaſtiſchen Geſtalten als
ebenſoviele Anſätze zu einer für ihren Standpunkt allzu herben Komik
ausſchließen mußte. Konnte er doch Mercutio und die Amme in Romeo
und Julie als poſſenhafte Intermezziſten anſehen! Dieß hing freilich
auch mit ſeinen Stoffen zuſammen; wer ſich die Aufgabe ſetzt, den ſozia-
len Menſchen auf den Irrgängen ſeiner Bildung zur Gemüthsruhe und
harmoniſchen Thätigkeit zu begleiten, der muß die rauheren Ecken und
gröbere Ausladung des Menſchen ſcheuen, welcher auf großem Schauplatze
handelt. Doch glättete Göthes milde Hand auch viele der ſchärferen
Falten, die ſich nicht minder auf der Stirne des nur mit ſich und ſeiner Er-
ziehung für die Geſellſchaft beſchäftigten Menſchen graben. Alſo in doppeltem
Sinne zu wenig Schatten und Farbe, theils in der Art der Behandlung
des ergriffenen Stoffs, theils in der Beſchränkung auf dieſen Stoff be-
gründet. Schiller führte zwar den Menſchen hinaus in das Feld der
politiſchen Bewegung und That, aber auch er lernte in der Schule der
Alten jene Planheit und Generalität des Pathos, welche das Individuelle
nicht in ſeinem vollen Umfang aufnimmt, den Charakter nicht in die
ſcheinbar widerſprechenden Verwicklungen ſeiner intenſiven Eigenheit ver-
folgt, und dazu kam dann überdieß jene Einmiſchung ſeiner Subjectivität
in den Stoff, welche dem dargeſtellten Charakter die eigenen, nicht in Phan-
taſie rein aufgegangenen auf ein abſtractes, moraliſirendes Denken ge-
gründeten Ideen unterſchob. Alſo auch hier zu weißes Licht. J. Paul
brach freilich die Subjectivität in einem bunteren Priſma, aber er wußte
nicht alle Gegenſätze, die er aufſtellte, auch zu verſöhnen, und dieß kam
daher, daß ſeine Sentimentalität ſchließlich auch auf wenige abſtracte
Ideen (Unſterblichkeit u. ſ. w.) ſich reduzirte, mit denen die Subjectivität
nichts anzufangen weiß, wenn es gilt, die reale Welt zu ertragen, zu
beherrſchen; den Schmerz über dieſe Kluft hat er freilich farbenreich dar-
geſtellt, aber nimmt man ſeinen Geſtalten dieſe Strahlenbrechung, ſo
bleiben dünne, flache, fleiſchloſe, in Waſſerfarben gemalte Ideale zurück.
Der innere Widerſpruch, aus dem der Humor fließt, hat zum Theil ſeinen
Grund gerade darin, daß die reichen Kräfte der concreten Subjectivität
aus dieſen flachen Idealen ſich nicht nähren, nicht zur wahren, in die
That übergehenden Erfüllung gelangen können. Alle dieſe Mängel zei-
gen denn zunächſt eine überſchwängerte Subjectivität, welche ihre Geſtal-
ten nicht in’s volle Leben taucht. Man kann dieß auch Aufklärung nennen,

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[517/0231] dünnes Licht. Sie hatte Recht in mehrerlei Sinn. Erſtens: Göthe ſtieg zwar tief genug in die Bildungskämpfe des ſubjectiven Seelenlebens, run- dete aber ſeine Bilder zu einer Grazie der Humanität ab, worin die här- teren Kanten der Individualität und ihrer unendlichen Eigenheit zwar nicht ebenſo, aber doch auf ähnliche Weiſe verſchwemmt wurden, wie das antike Ideal ſie vom reinen Ebenmaaße ſeiner plaſtiſchen Geſtalten als ebenſoviele Anſätze zu einer für ihren Standpunkt allzu herben Komik ausſchließen mußte. Konnte er doch Mercutio und die Amme in Romeo und Julie als poſſenhafte Intermezziſten anſehen! Dieß hing freilich auch mit ſeinen Stoffen zuſammen; wer ſich die Aufgabe ſetzt, den ſozia- len Menſchen auf den Irrgängen ſeiner Bildung zur Gemüthsruhe und harmoniſchen Thätigkeit zu begleiten, der muß die rauheren Ecken und gröbere Ausladung des Menſchen ſcheuen, welcher auf großem Schauplatze handelt. Doch glättete Göthes milde Hand auch viele der ſchärferen Falten, die ſich nicht minder auf der Stirne des nur mit ſich und ſeiner Er- ziehung für die Geſellſchaft beſchäftigten Menſchen graben. Alſo in doppeltem Sinne zu wenig Schatten und Farbe, theils in der Art der Behandlung des ergriffenen Stoffs, theils in der Beſchränkung auf dieſen Stoff be- gründet. Schiller führte zwar den Menſchen hinaus in das Feld der politiſchen Bewegung und That, aber auch er lernte in der Schule der Alten jene Planheit und Generalität des Pathos, welche das Individuelle nicht in ſeinem vollen Umfang aufnimmt, den Charakter nicht in die ſcheinbar widerſprechenden Verwicklungen ſeiner intenſiven Eigenheit ver- folgt, und dazu kam dann überdieß jene Einmiſchung ſeiner Subjectivität in den Stoff, welche dem dargeſtellten Charakter die eigenen, nicht in Phan- taſie rein aufgegangenen auf ein abſtractes, moraliſirendes Denken ge- gründeten Ideen unterſchob. Alſo auch hier zu weißes Licht. J. Paul brach freilich die Subjectivität in einem bunteren Priſma, aber er wußte nicht alle Gegenſätze, die er aufſtellte, auch zu verſöhnen, und dieß kam daher, daß ſeine Sentimentalität ſchließlich auch auf wenige abſtracte Ideen (Unſterblichkeit u. ſ. w.) ſich reduzirte, mit denen die Subjectivität nichts anzufangen weiß, wenn es gilt, die reale Welt zu ertragen, zu beherrſchen; den Schmerz über dieſe Kluft hat er freilich farbenreich dar- geſtellt, aber nimmt man ſeinen Geſtalten dieſe Strahlenbrechung, ſo bleiben dünne, flache, fleiſchloſe, in Waſſerfarben gemalte Ideale zurück. Der innere Widerſpruch, aus dem der Humor fließt, hat zum Theil ſeinen Grund gerade darin, daß die reichen Kräfte der concreten Subjectivität aus dieſen flachen Idealen ſich nicht nähren, nicht zur wahren, in die That übergehenden Erfüllung gelangen können. Alle dieſe Mängel zei- gen denn zunächſt eine überſchwängerte Subjectivität, welche ihre Geſtal- ten nicht in’s volle Leben taucht. Man kann dieß auch Aufklärung nennen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/231>, abgerufen am 23.11.2024.