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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Gaukeleien und seine bangen Schauer vor den "bedrohlichen" Abgründen
des Lebens. Sie hatte große Talente und allemal da erscheint sie bedeu-
tend, wo diese Talente, nicht der strengen Schule angehörig oder auf
Augenblicke sich von ihr befreiend, das Mittelalter frei als Stoff behan-
delten, die Wunder in's Innere führten, Begeisterung mit Besonnenheit
einten; eine Masse noch ungegrabener Schätze haben diese Talente auf-
geschlossen, das menschliche Herz ist in neuen Tiefen erklungen. Aber
die Schule im Ganzen schuf Gespenster, verdarb ihre besten Leistungen
durch einen kranken Wurm, durch irgend ein larvenhaft und dämonisch
Häßliches. Hier ist der rechte Ort, wo zuerst jene sublimirte Häßlichkeit
zu erwähnen ist, welche wir als eine historische Gestalt nicht in die allge-
meine Begriffslehre aufgenommen wissen wollten (§. 149, 1.), in der
Psychologie des Schönen aber kurz begründeten (§. 406, 3.). Zwar ist die
eigentliche Romantik noch verhältnißmäßig unschuldig; es ist mehr Ver-
zweiflung an der sittlichen Weltordnung, als eigentliche Blasirtheit, was
ihre Larven hervorruft. Doch lag diese nahe genug; denn was war der
Grund der ungeheuren Verwechslung, wodurch sie die Aufgabe der Zeit
verkehrte? Die deutsche Subjectivität, überfüllt mit innerer Bildung,
mit Philosophie reichlich versetzt, geknebelt nach außen und unfähig, die
Welt zu bewegen, vergeilte in sich, trieb sich auf den Gipfel der Will-
kühr und machte sich ein markloses Schattenspiel vor. Die Gestaltlosig-
keit dieses Spiels, welche in der bildenden wie in der dichtenden Phan-
tasie jede feste Form verflüchtigte, nirgends die Geduld und Entsagung
hatte, bei der Stange zu bleiben, hatte also zuerst ihren Grund in dem
Ich, dem es mit nichts Ernst ist, und daraus erst floß die Wahl des
Mittelalters und seiner Zauberwelt als eines willkommenen Schau-
platzes für dieß gaukelnde Spiel, das im Schaffen das halb Geschaffene
auflöst. Durch und durch moderne Subjecte verstecken sich in Mönchskutte
und Ritterkleid. Es ist Phantasie der Phantasie; man legt sich der
phantasielosen Aufklärung zum Possen darauf, Phantasie zu haben, und
treibt sich voll Absichtlichkeit in das hinein, was die Phantasie von der
flachen Aufklärung nur negativ unterscheidet: aus der Wahrheit, daß
sie nicht bloß verständig, nicht flach, nicht moralisirend, nicht fadengerade,
nicht im gemeinen Sinne nüchtern ist, daraus macht man, daß sie besin-
nungslos, wahnsinnig, gefühlstrunken, narkotisirt sein müsse. Dahinter
steckt gerade eben die Prosa, gegen die man zu Felde zieht; wer stets
den Instinct predigt, statt unbeirrt durch die Prosa der Welt, einfach durch
ihn zu schaffen, der zeigt, daß er ihn verloren hat, und der trockene
Philister der Aufklärung unterscheidet sich von ihm dadurch, daß er ehrlich
ist, jener Theoretiker des Phantastischen aber nicht.


Gaukeleien und ſeine bangen Schauer vor den „bedrohlichen“ Abgründen
des Lebens. Sie hatte große Talente und allemal da erſcheint ſie bedeu-
tend, wo dieſe Talente, nicht der ſtrengen Schule angehörig oder auf
Augenblicke ſich von ihr befreiend, das Mittelalter frei als Stoff behan-
delten, die Wunder in’s Innere führten, Begeiſterung mit Beſonnenheit
einten; eine Maſſe noch ungegrabener Schätze haben dieſe Talente auf-
geſchloſſen, das menſchliche Herz iſt in neuen Tiefen erklungen. Aber
die Schule im Ganzen ſchuf Geſpenſter, verdarb ihre beſten Leiſtungen
durch einen kranken Wurm, durch irgend ein larvenhaft und dämoniſch
Häßliches. Hier iſt der rechte Ort, wo zuerſt jene ſublimirte Häßlichkeit
zu erwähnen iſt, welche wir als eine hiſtoriſche Geſtalt nicht in die allge-
meine Begriffslehre aufgenommen wiſſen wollten (§. 149, 1.), in der
Pſychologie des Schönen aber kurz begründeten (§. 406, 3.). Zwar iſt die
eigentliche Romantik noch verhältnißmäßig unſchuldig; es iſt mehr Ver-
zweiflung an der ſittlichen Weltordnung, als eigentliche Blaſirtheit, was
ihre Larven hervorruft. Doch lag dieſe nahe genug; denn was war der
Grund der ungeheuren Verwechſlung, wodurch ſie die Aufgabe der Zeit
verkehrte? Die deutſche Subjectivität, überfüllt mit innerer Bildung,
mit Philoſophie reichlich verſetzt, geknebelt nach außen und unfähig, die
Welt zu bewegen, vergeilte in ſich, trieb ſich auf den Gipfel der Will-
kühr und machte ſich ein markloſes Schattenſpiel vor. Die Geſtaltloſig-
keit dieſes Spiels, welche in der bildenden wie in der dichtenden Phan-
taſie jede feſte Form verflüchtigte, nirgends die Geduld und Entſagung
hatte, bei der Stange zu bleiben, hatte alſo zuerſt ihren Grund in dem
Ich, dem es mit nichts Ernſt iſt, und daraus erſt floß die Wahl des
Mittelalters und ſeiner Zauberwelt als eines willkommenen Schau-
platzes für dieß gaukelnde Spiel, das im Schaffen das halb Geſchaffene
auflöst. Durch und durch moderne Subjecte verſtecken ſich in Mönchskutte
und Ritterkleid. Es iſt Phantaſie der Phantaſie; man legt ſich der
phantaſieloſen Aufklärung zum Poſſen darauf, Phantaſie zu haben, und
treibt ſich voll Abſichtlichkeit in das hinein, was die Phantaſie von der
flachen Aufklärung nur negativ unterſcheidet: aus der Wahrheit, daß
ſie nicht bloß verſtändig, nicht flach, nicht moraliſirend, nicht fadengerade,
nicht im gemeinen Sinne nüchtern iſt, daraus macht man, daß ſie beſin-
nungslos, wahnſinnig, gefühlstrunken, narkotiſirt ſein müſſe. Dahinter
ſteckt gerade eben die Proſa, gegen die man zu Felde zieht; wer ſtets
den Inſtinct predigt, ſtatt unbeirrt durch die Proſa der Welt, einfach durch
ihn zu ſchaffen, der zeigt, daß er ihn verloren hat, und der trockene
Philiſter der Aufklärung unterſcheidet ſich von ihm dadurch, daß er ehrlich
iſt, jener Theoretiker des Phantaſtiſchen aber nicht.


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[519/0233] Gaukeleien und ſeine bangen Schauer vor den „bedrohlichen“ Abgründen des Lebens. Sie hatte große Talente und allemal da erſcheint ſie bedeu- tend, wo dieſe Talente, nicht der ſtrengen Schule angehörig oder auf Augenblicke ſich von ihr befreiend, das Mittelalter frei als Stoff behan- delten, die Wunder in’s Innere führten, Begeiſterung mit Beſonnenheit einten; eine Maſſe noch ungegrabener Schätze haben dieſe Talente auf- geſchloſſen, das menſchliche Herz iſt in neuen Tiefen erklungen. Aber die Schule im Ganzen ſchuf Geſpenſter, verdarb ihre beſten Leiſtungen durch einen kranken Wurm, durch irgend ein larvenhaft und dämoniſch Häßliches. Hier iſt der rechte Ort, wo zuerſt jene ſublimirte Häßlichkeit zu erwähnen iſt, welche wir als eine hiſtoriſche Geſtalt nicht in die allge- meine Begriffslehre aufgenommen wiſſen wollten (§. 149, 1.), in der Pſychologie des Schönen aber kurz begründeten (§. 406, 3.). Zwar iſt die eigentliche Romantik noch verhältnißmäßig unſchuldig; es iſt mehr Ver- zweiflung an der ſittlichen Weltordnung, als eigentliche Blaſirtheit, was ihre Larven hervorruft. Doch lag dieſe nahe genug; denn was war der Grund der ungeheuren Verwechſlung, wodurch ſie die Aufgabe der Zeit verkehrte? Die deutſche Subjectivität, überfüllt mit innerer Bildung, mit Philoſophie reichlich verſetzt, geknebelt nach außen und unfähig, die Welt zu bewegen, vergeilte in ſich, trieb ſich auf den Gipfel der Will- kühr und machte ſich ein markloſes Schattenſpiel vor. Die Geſtaltloſig- keit dieſes Spiels, welche in der bildenden wie in der dichtenden Phan- taſie jede feſte Form verflüchtigte, nirgends die Geduld und Entſagung hatte, bei der Stange zu bleiben, hatte alſo zuerſt ihren Grund in dem Ich, dem es mit nichts Ernſt iſt, und daraus erſt floß die Wahl des Mittelalters und ſeiner Zauberwelt als eines willkommenen Schau- platzes für dieß gaukelnde Spiel, das im Schaffen das halb Geſchaffene auflöst. Durch und durch moderne Subjecte verſtecken ſich in Mönchskutte und Ritterkleid. Es iſt Phantaſie der Phantaſie; man legt ſich der phantaſieloſen Aufklärung zum Poſſen darauf, Phantaſie zu haben, und treibt ſich voll Abſichtlichkeit in das hinein, was die Phantaſie von der flachen Aufklärung nur negativ unterſcheidet: aus der Wahrheit, daß ſie nicht bloß verſtändig, nicht flach, nicht moraliſirend, nicht fadengerade, nicht im gemeinen Sinne nüchtern iſt, daraus macht man, daß ſie beſin- nungslos, wahnſinnig, gefühlstrunken, narkotiſirt ſein müſſe. Dahinter ſteckt gerade eben die Proſa, gegen die man zu Felde zieht; wer ſtets den Inſtinct predigt, ſtatt unbeirrt durch die Proſa der Welt, einfach durch ihn zu ſchaffen, der zeigt, daß er ihn verloren hat, und der trockene Philiſter der Aufklärung unterſcheidet ſich von ihm dadurch, daß er ehrlich iſt, jener Theoretiker des Phantaſtiſchen aber nicht.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/233>, abgerufen am 27.11.2024.