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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Vorstellens durch die Kluft der Aufklärung getrennt ist. Allein Einsicht ist
nicht Können, ja sie hindert es durch ihre Schärfe sowie durch die Dichtheit
der von ihr angesammelten Kenntnisse im ästhetischen Gebiete. Keine Zeit
wußte so gut, was zu machen ist, als die jetzige, und keine kann es so wenig
machen.

Die Romantik löste sich zwar von selbst auf, allein zum allge-
meinen Bewußtsein kam die Nothwendigkeit dieser Auflösung durch die
Kritik. Die Kritik ist es auch, die es ausgesprochen hat, daß fortan der
Phantasie nur die ursprüngliche Stoffwelt gegeben ist, daß uns von allen
mythischen Stoffen die ungeheure Kluft der Aufklärung trennt, welche zu
läugnen Wahnsinn ist. Sie hat zugleich auf die zeitgemäßen Stoffe hin-
gedeutet, auf die geschichtlichen nämlich, in welchen dasselbe Ringen nach
Freiheit zu Tage liegt, wie in unserer Zeit. Kritik aber ist Reflexion
und es ist schon dieß ein ganz übles Zeichen, wenn über die rechten Stoffe
kritisch verhandelt, wenn der irrende Instinkt von der Reflexion belehrt
wird. -- Wir sind nun auf dem subjectiven Wege der Lehre von der
Phantasie an denselben Punkt gelangt, an den wir am Schlusse der Lehre
vom Naturschönen auf dem objectiven gelangten. Dort sahen wir: die
Gegenwart hat keine schönen Formen, der Künstler kann in ihr keine
Studien machen, die Anschauung geht leer aus; jetzt müssen wir sagen:
die Phantasie hat sich in Reflexion zersetzt, durch die Richtung und Stimmung
der Zeit ist der Instinct verloren, die Naivetät in Kritik aufgelöst, die
Phantasie ist ein Hamlet geworden. Man nehme jenes und dieß zusam-
men, so muß die ungeheure Ungunst der Zeit einleuchten. Unter Reflexion
verstehen wir nicht nur die philosophisch kritische Bildung der Gegenwart,
der sich auch der Künstler nicht ganz entziehen kann, sondern auch die
Praxis der Bildung, wie sie an der Wirklichkeit, der Gesellschaft, dem
Staate von allen Seiten auf Umbildung arbeitet, aber auch dieß noch
nicht durch Thaten, sondern durch Reden, auf dem Weg der Debatte,
der Discussion, also ebenfalls der Reflexion. Dazu kommen nun aber
alle die großen Eroberungen des Wissens, welche die Kunst näher an-
gehen. Die ursprüngliche Stoffwelt ist durch unzählige Kenntnisse, Be-
obachtungen, Studien zu einer ungeheuern Masse angewachsen; an der
landschaftlichen Natur z. B. hat man unendliche neue Seiten aufgefunden:
wie hat sich nur das Gebiet von Beobachtungen über Lichtwirkungen,
Farben erweitert, wie viele feinere Reize, Schönheiten hat man da ent-
deckt! Nun behandelt z. B. ein Maler einen historischen Stoff, setzt ihn
in ein gewisses Licht, da liegt ihm die Verführung nahe, die Lichteffecte
mit einer Feinheit und Wichtigkeit zu behandeln, welche der eigentlichen
Aufgabe schadet: eine Verführung, die ein Maler der alten Zeit gar

Vorſtellens durch die Kluft der Aufklärung getrennt iſt. Allein Einſicht iſt
nicht Können, ja ſie hindert es durch ihre Schärfe ſowie durch die Dichtheit
der von ihr angeſammelten Kenntniſſe im äſthetiſchen Gebiete. Keine Zeit
wußte ſo gut, was zu machen iſt, als die jetzige, und keine kann es ſo wenig
machen.

Die Romantik löste ſich zwar von ſelbſt auf, allein zum allge-
meinen Bewußtſein kam die Nothwendigkeit dieſer Auflöſung durch die
Kritik. Die Kritik iſt es auch, die es ausgeſprochen hat, daß fortan der
Phantaſie nur die urſprüngliche Stoffwelt gegeben iſt, daß uns von allen
mythiſchen Stoffen die ungeheure Kluft der Aufklärung trennt, welche zu
läugnen Wahnſinn iſt. Sie hat zugleich auf die zeitgemäßen Stoffe hin-
gedeutet, auf die geſchichtlichen nämlich, in welchen daſſelbe Ringen nach
Freiheit zu Tage liegt, wie in unſerer Zeit. Kritik aber iſt Reflexion
und es iſt ſchon dieß ein ganz übles Zeichen, wenn über die rechten Stoffe
kritiſch verhandelt, wenn der irrende Inſtinkt von der Reflexion belehrt
wird. — Wir ſind nun auf dem ſubjectiven Wege der Lehre von der
Phantaſie an denſelben Punkt gelangt, an den wir am Schluſſe der Lehre
vom Naturſchönen auf dem objectiven gelangten. Dort ſahen wir: die
Gegenwart hat keine ſchönen Formen, der Künſtler kann in ihr keine
Studien machen, die Anſchauung geht leer aus; jetzt müſſen wir ſagen:
die Phantaſie hat ſich in Reflexion zerſetzt, durch die Richtung und Stimmung
der Zeit iſt der Inſtinct verloren, die Naivetät in Kritik aufgelöst, die
Phantaſie iſt ein Hamlet geworden. Man nehme jenes und dieß zuſam-
men, ſo muß die ungeheure Ungunſt der Zeit einleuchten. Unter Reflexion
verſtehen wir nicht nur die philoſophiſch kritiſche Bildung der Gegenwart,
der ſich auch der Künſtler nicht ganz entziehen kann, ſondern auch die
Praxis der Bildung, wie ſie an der Wirklichkeit, der Geſellſchaft, dem
Staate von allen Seiten auf Umbildung arbeitet, aber auch dieß noch
nicht durch Thaten, ſondern durch Reden, auf dem Weg der Debatte,
der Diſcuſſion, alſo ebenfalls der Reflexion. Dazu kommen nun aber
alle die großen Eroberungen des Wiſſens, welche die Kunſt näher an-
gehen. Die urſprüngliche Stoffwelt iſt durch unzählige Kenntniſſe, Be-
obachtungen, Studien zu einer ungeheuern Maſſe angewachſen; an der
landſchaftlichen Natur z. B. hat man unendliche neue Seiten aufgefunden:
wie hat ſich nur das Gebiet von Beobachtungen über Lichtwirkungen,
Farben erweitert, wie viele feinere Reize, Schönheiten hat man da ent-
deckt! Nun behandelt z. B. ein Maler einen hiſtoriſchen Stoff, ſetzt ihn
in ein gewiſſes Licht, da liegt ihm die Verführung nahe, die Lichteffecte
mit einer Feinheit und Wichtigkeit zu behandeln, welche der eigentlichen
Aufgabe ſchadet: eine Verführung, die ein Maler der alten Zeit gar

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[521/0235] Vorſtellens durch die Kluft der Aufklärung getrennt iſt. Allein Einſicht iſt nicht Können, ja ſie hindert es durch ihre Schärfe ſowie durch die Dichtheit der von ihr angeſammelten Kenntniſſe im äſthetiſchen Gebiete. Keine Zeit wußte ſo gut, was zu machen iſt, als die jetzige, und keine kann es ſo wenig machen. Die Romantik löste ſich zwar von ſelbſt auf, allein zum allge- meinen Bewußtſein kam die Nothwendigkeit dieſer Auflöſung durch die Kritik. Die Kritik iſt es auch, die es ausgeſprochen hat, daß fortan der Phantaſie nur die urſprüngliche Stoffwelt gegeben iſt, daß uns von allen mythiſchen Stoffen die ungeheure Kluft der Aufklärung trennt, welche zu läugnen Wahnſinn iſt. Sie hat zugleich auf die zeitgemäßen Stoffe hin- gedeutet, auf die geſchichtlichen nämlich, in welchen daſſelbe Ringen nach Freiheit zu Tage liegt, wie in unſerer Zeit. Kritik aber iſt Reflexion und es iſt ſchon dieß ein ganz übles Zeichen, wenn über die rechten Stoffe kritiſch verhandelt, wenn der irrende Inſtinkt von der Reflexion belehrt wird. — Wir ſind nun auf dem ſubjectiven Wege der Lehre von der Phantaſie an denſelben Punkt gelangt, an den wir am Schluſſe der Lehre vom Naturſchönen auf dem objectiven gelangten. Dort ſahen wir: die Gegenwart hat keine ſchönen Formen, der Künſtler kann in ihr keine Studien machen, die Anſchauung geht leer aus; jetzt müſſen wir ſagen: die Phantaſie hat ſich in Reflexion zerſetzt, durch die Richtung und Stimmung der Zeit iſt der Inſtinct verloren, die Naivetät in Kritik aufgelöst, die Phantaſie iſt ein Hamlet geworden. Man nehme jenes und dieß zuſam- men, ſo muß die ungeheure Ungunſt der Zeit einleuchten. Unter Reflexion verſtehen wir nicht nur die philoſophiſch kritiſche Bildung der Gegenwart, der ſich auch der Künſtler nicht ganz entziehen kann, ſondern auch die Praxis der Bildung, wie ſie an der Wirklichkeit, der Geſellſchaft, dem Staate von allen Seiten auf Umbildung arbeitet, aber auch dieß noch nicht durch Thaten, ſondern durch Reden, auf dem Weg der Debatte, der Diſcuſſion, alſo ebenfalls der Reflexion. Dazu kommen nun aber alle die großen Eroberungen des Wiſſens, welche die Kunſt näher an- gehen. Die urſprüngliche Stoffwelt iſt durch unzählige Kenntniſſe, Be- obachtungen, Studien zu einer ungeheuern Maſſe angewachſen; an der landſchaftlichen Natur z. B. hat man unendliche neue Seiten aufgefunden: wie hat ſich nur das Gebiet von Beobachtungen über Lichtwirkungen, Farben erweitert, wie viele feinere Reize, Schönheiten hat man da ent- deckt! Nun behandelt z. B. ein Maler einen hiſtoriſchen Stoff, ſetzt ihn in ein gewiſſes Licht, da liegt ihm die Verführung nahe, die Lichteffecte mit einer Feinheit und Wichtigkeit zu behandeln, welche der eigentlichen Aufgabe ſchadet: eine Verführung, die ein Maler der alten Zeit gar

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 521. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/235>, abgerufen am 27.11.2024.