Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
noch nicht. Sie erfaßt die Oberfläche als reinen Schein, sofern sie vom
noch nicht. Sie erfaßt die Oberfläche als reinen Schein, ſofern ſie vom <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0037" n="323"/> noch nicht. Sie erfaßt die Oberfläche als reinen Schein, ſofern ſie vom<lb/> Durchmeſſer abſieht: aber dieſe Oberfläche ſelbſt iſt getrübt; das empiriſche<lb/> Blut dieſes einzelnen Körpers, das nie ganz geſund iſt, ſetzt Unreinheiten<lb/> auf der Haut ab, die Seele drückt ihre Stimmungen, der Wille ſeine Be-<lb/> wegungen in ſeinem Organe nicht rein aus, denn nicht nur ſetzt ihm<lb/> dieſes im Drange der äußern Reibung Hinderniſſe entgegen, ſondern jene<lb/> Stimmungen, Willensacte ſelbſt trüben ſich im Dienſte des Augenblicks.<lb/> Dieſes Individuum erſcheint alſo getrübt und ebenſo alle andern, die mir<lb/> vorkommen können, alſo die Gattung. Schelling ſagt (in der Rede über<lb/> die Verh. d. bild. Künſte z. Natur): die Kunſt ſtelle, indem ſie wirkliches<lb/> Athmen, Blut, Wärme (geſetzt, ſie könnte es auch wiedergeben) von ihrer<lb/> Darſtellung ausſcheide, nur das Nichtſeiende, worin der Keim des Alterns<lb/> und Vergeſſens liege, als nichtſeiend dar und hebe ſo das Unweſentliche, die<lb/> Zeit auf, ſie erfaſſe den lebendigen Gegenſtand in dem Augenblick ſeiner<lb/> höchſten Blüthe, außer welchem ihm nur ein Werden und Vergehen zukomme,<lb/> hebe ihn ſo aus der Zeit heraus und laſſe ihn in ſeinem reinen Sein, in der<lb/> Ewigkeit ſeines Lebens erſcheinen. Dieß bedarf erſt der Berichtigung, daß<lb/> die Kunſt ganz wohl auch das Werden und Vergehen, das Krankſein, Altern<lb/> Sterben, jede Art des Leidens darſtellen kann und ſoll, und die Möglich-<lb/> keit dieſer wechſelnden Zuſtände liegt ja eben in der unmittelbar einzelnen<lb/> daſeienden Lebendigkeit. Die Kunſt verhehlt nicht, daß der menſchliche<lb/> Körper Blut u. ſ. w. hat, und die Anſchauung, von der ſie ausgeht, iſt<lb/> nicht deßwegen noch fern vom Schönen, weil ſie der Geſtalt den empiriſch<lb/> einzelnen Lebensprozeß anſieht: aber dieſer Prozeß ſelbſt iſt durch das Ge-<lb/> dränge des Zuſammenſeins dieſes einzelnen Lebendigen getrübt, und dieß<lb/> zeigt auch die Oberfläche, durch deren Ablöſung vom innern Bau alſo<lb/> keineswegs, wie Schelling im Zuſammenhang derſelben Stelle ſagt, die<lb/> Idealität ſchon gewonnen iſt. Leiden, Untergehen erſcheint durch die<lb/> unzeitigen Reibungen jenes Gedränges ſelbſt nicht rein in ſeinem Ausdruck<lb/> (vergl. §. 40 Anm.). Nicht deßwegen, weil es Quelle des Werdens und<lb/> Vergehens iſt, hat die Anſchauung am unmittelbar Lebendigen in der<lb/> Geſtalt ein Getrübtes vor ſich, ſondern weil alle Lebenserſcheinungen in der<lb/> unendlichen Ausdehnung des Seins an Hemmungen leiden, wodurch ihr<lb/> Weſen, wäre es auch an ſich eine Hemmung und dieſe Hemmung jewei-<lb/> liger Stoff des Schönen, unrein zum Ausdruck kommt. Darum ſetzt das<lb/> Schöne einen Tod der leibhaftig gegenwärtigen Lebendigkeit voraus, in<lb/> welchem aber nicht der Schein ſeines Werdens und Vergehens untergeht,<lb/> aus welchem es vielmehr ſammt dem Scheine ſeines unmittelbaren Lebens-<lb/> prozeſſes wieder hervortaucht, doch ſo, daß dieſer Prozeß ſich in Reinheit<lb/> darſtellt. Die Anſchauung nun beginnt dieſe Tödtung durch das trennende<lb/> Herausgreifen (§. 385); aber dieß genügt nicht, denn das Herausgegriffene<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [323/0037]
noch nicht. Sie erfaßt die Oberfläche als reinen Schein, ſofern ſie vom
Durchmeſſer abſieht: aber dieſe Oberfläche ſelbſt iſt getrübt; das empiriſche
Blut dieſes einzelnen Körpers, das nie ganz geſund iſt, ſetzt Unreinheiten
auf der Haut ab, die Seele drückt ihre Stimmungen, der Wille ſeine Be-
wegungen in ſeinem Organe nicht rein aus, denn nicht nur ſetzt ihm
dieſes im Drange der äußern Reibung Hinderniſſe entgegen, ſondern jene
Stimmungen, Willensacte ſelbſt trüben ſich im Dienſte des Augenblicks.
Dieſes Individuum erſcheint alſo getrübt und ebenſo alle andern, die mir
vorkommen können, alſo die Gattung. Schelling ſagt (in der Rede über
die Verh. d. bild. Künſte z. Natur): die Kunſt ſtelle, indem ſie wirkliches
Athmen, Blut, Wärme (geſetzt, ſie könnte es auch wiedergeben) von ihrer
Darſtellung ausſcheide, nur das Nichtſeiende, worin der Keim des Alterns
und Vergeſſens liege, als nichtſeiend dar und hebe ſo das Unweſentliche, die
Zeit auf, ſie erfaſſe den lebendigen Gegenſtand in dem Augenblick ſeiner
höchſten Blüthe, außer welchem ihm nur ein Werden und Vergehen zukomme,
hebe ihn ſo aus der Zeit heraus und laſſe ihn in ſeinem reinen Sein, in der
Ewigkeit ſeines Lebens erſcheinen. Dieß bedarf erſt der Berichtigung, daß
die Kunſt ganz wohl auch das Werden und Vergehen, das Krankſein, Altern
Sterben, jede Art des Leidens darſtellen kann und ſoll, und die Möglich-
keit dieſer wechſelnden Zuſtände liegt ja eben in der unmittelbar einzelnen
daſeienden Lebendigkeit. Die Kunſt verhehlt nicht, daß der menſchliche
Körper Blut u. ſ. w. hat, und die Anſchauung, von der ſie ausgeht, iſt
nicht deßwegen noch fern vom Schönen, weil ſie der Geſtalt den empiriſch
einzelnen Lebensprozeß anſieht: aber dieſer Prozeß ſelbſt iſt durch das Ge-
dränge des Zuſammenſeins dieſes einzelnen Lebendigen getrübt, und dieß
zeigt auch die Oberfläche, durch deren Ablöſung vom innern Bau alſo
keineswegs, wie Schelling im Zuſammenhang derſelben Stelle ſagt, die
Idealität ſchon gewonnen iſt. Leiden, Untergehen erſcheint durch die
unzeitigen Reibungen jenes Gedränges ſelbſt nicht rein in ſeinem Ausdruck
(vergl. §. 40 Anm.). Nicht deßwegen, weil es Quelle des Werdens und
Vergehens iſt, hat die Anſchauung am unmittelbar Lebendigen in der
Geſtalt ein Getrübtes vor ſich, ſondern weil alle Lebenserſcheinungen in der
unendlichen Ausdehnung des Seins an Hemmungen leiden, wodurch ihr
Weſen, wäre es auch an ſich eine Hemmung und dieſe Hemmung jewei-
liger Stoff des Schönen, unrein zum Ausdruck kommt. Darum ſetzt das
Schöne einen Tod der leibhaftig gegenwärtigen Lebendigkeit voraus, in
welchem aber nicht der Schein ſeines Werdens und Vergehens untergeht,
aus welchem es vielmehr ſammt dem Scheine ſeines unmittelbaren Lebens-
prozeſſes wieder hervortaucht, doch ſo, daß dieſer Prozeß ſich in Reinheit
darſtellt. Die Anſchauung nun beginnt dieſe Tödtung durch das trennende
Herausgreifen (§. 385); aber dieß genügt nicht, denn das Herausgegriffene
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