Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
die theoretische Auflösung; jene eine Zerstörung des Körpers, um ihn
die theoretiſche Auflöſung; jene eine Zerſtörung des Körpers, um ihn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0036" n="322"/> die theoretiſche Auflöſung; jene eine Zerſtörung des Körpers, um ihn<lb/> ſtoffartig zu genießen, oder aus Haß, um ihm Schmerzen zu bereiten,<lb/> dieſe eine anatomiſche, chemiſche u. ſ. w., um ihn zu erkennen. Daß<lb/> uns die erſtere den Gegenſtand als Ausdruck ſeines Weſens zeige, wird<lb/> Niemand behaupten; denn nur zufällig legt ſie dieſe oder jene Theile<lb/> des inneren Baues blos; die andere aber iſt mit ihrer Erkenntniß nicht<lb/> früher fertig, als bis ſie alle Theile blos gelegt, durchſucht, dann in ihrer<lb/> Zuſammenwirkung begriffen, alſo die aufgelöste Geſtalt ſich wieder aufge-<lb/> baut hat; dann erkennt ſie auf begriffsmäßigem Wege, daß dieſer Bau<lb/> allerdings auf ſeiner Geſammtoberfläche eben das ausdrückt, was er iſt.<lb/> In dieſer Schlußerkenntniß hat ſie alſo auf vermittelte Weiſe präſent,<lb/> was die Anſchanung (ein Act des wirklichen, aber ungetheilten Geiſtes)<lb/> auf unmittelbare Weiſe präſent hat. Vergleicht man aber die Anſchauung<lb/> nicht mit dieſer Schlußerkenntniß, ſondern mit der einzelnen Erkenntniß<lb/> einzelner Theile der aufgelösten Geſtalt, ſo iſt ſie vollkommener, als<lb/> dieſe, denn ſie hat den Geſammt-Ausdruck des Weſens vor ſich, dieſe<lb/> nicht; mit Recht ſchaudert ſie daher vor der Auflöſung, abgeſehen von<lb/> ihrem Endziele, als vor einem Grauſenhaften. Künſtler ſtudiren Anatomie,<lb/> Perſpective u. ſ. w., um ſie wieder zu vergeſſen, d. h. um das Einzelne<lb/> der Erkenntniß als ein verſchwindendes Mittel in den Inſtinct der Ge-<lb/> ſammt-Anſchauung zurückzuführen. Soweit hätten wir alſo ſchon in der<lb/> Anſchauung den reinen Schein, den Ausdruck des Weſens in der Ge-<lb/> ſammtwirkung der Oberfläche (§. 54). Allein nun erfaßt die An-<lb/> ſchauung das Einzelne in ſeinem unmittelbaren Daſein. Sie erfaßt es<lb/> zwar, indem ſie es als Ausdruck ſeines Weſens erfaßt, zugleich als In-<lb/> dividuum ſeiner Gattung, ſie bekommt die Idee mit. Das Allgemeine im<lb/> Einzelnen, das Einzelne als Wirklichkeit des Allgemeinen zu faſſen, dazu<lb/> gehört ſo wenig die abſtracte Begriffsbildung, als ihre naturwiſſenſchaftliche<lb/> Vorarbeit, jene phyſikaliſche, chemiſche, anatomiſche Analyſe. Der Unter-<lb/> ſchied des Begreifens und Anſchauens iſt nicht der, daß dieſem das Allge-<lb/> meine verſchloſſen, jenem offen wäre, ſondern daß jenes auf begründete,<lb/> durch Trennung, Entgegenſetzung und Wiedervereinigung vermittelte und<lb/> in Bewußtſein des Bewußtſeins erhobene Weiſe daſſelbe Allgemeine im<lb/> Einzelnen hat, wie dieſes auf gefundene, unmittelbare und einfach bewußte.<lb/> Allein die Anſchauung erfaßt jedes Einzelne nur in der Trübung durch<lb/> den ſtörenden Zufall, den wir als überall und immer herrſchenden ſchon<lb/> kennen. Das Begreifen begreift auch dieſen in ſeiner Nothwendigkeit und<lb/> in ſeiner unendlichen Aufhebung (§. 52). Die Anſchauung aber über-<lb/> ſchaut nicht den unendlichen Gang dieſer Aufhebung. Der Geiſt ſoll auf<lb/> dem Wege, den ſie betreten, ein <hi rendition="#g">dieſem Wege eigenes</hi> Mittel finden,<lb/> die Trübung auszuſcheiden. Die Anſchauung als ſolche hat dieſes Mittel<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [322/0036]
die theoretiſche Auflöſung; jene eine Zerſtörung des Körpers, um ihn
ſtoffartig zu genießen, oder aus Haß, um ihm Schmerzen zu bereiten,
dieſe eine anatomiſche, chemiſche u. ſ. w., um ihn zu erkennen. Daß
uns die erſtere den Gegenſtand als Ausdruck ſeines Weſens zeige, wird
Niemand behaupten; denn nur zufällig legt ſie dieſe oder jene Theile
des inneren Baues blos; die andere aber iſt mit ihrer Erkenntniß nicht
früher fertig, als bis ſie alle Theile blos gelegt, durchſucht, dann in ihrer
Zuſammenwirkung begriffen, alſo die aufgelöste Geſtalt ſich wieder aufge-
baut hat; dann erkennt ſie auf begriffsmäßigem Wege, daß dieſer Bau
allerdings auf ſeiner Geſammtoberfläche eben das ausdrückt, was er iſt.
In dieſer Schlußerkenntniß hat ſie alſo auf vermittelte Weiſe präſent,
was die Anſchanung (ein Act des wirklichen, aber ungetheilten Geiſtes)
auf unmittelbare Weiſe präſent hat. Vergleicht man aber die Anſchauung
nicht mit dieſer Schlußerkenntniß, ſondern mit der einzelnen Erkenntniß
einzelner Theile der aufgelösten Geſtalt, ſo iſt ſie vollkommener, als
dieſe, denn ſie hat den Geſammt-Ausdruck des Weſens vor ſich, dieſe
nicht; mit Recht ſchaudert ſie daher vor der Auflöſung, abgeſehen von
ihrem Endziele, als vor einem Grauſenhaften. Künſtler ſtudiren Anatomie,
Perſpective u. ſ. w., um ſie wieder zu vergeſſen, d. h. um das Einzelne
der Erkenntniß als ein verſchwindendes Mittel in den Inſtinct der Ge-
ſammt-Anſchauung zurückzuführen. Soweit hätten wir alſo ſchon in der
Anſchauung den reinen Schein, den Ausdruck des Weſens in der Ge-
ſammtwirkung der Oberfläche (§. 54). Allein nun erfaßt die An-
ſchauung das Einzelne in ſeinem unmittelbaren Daſein. Sie erfaßt es
zwar, indem ſie es als Ausdruck ſeines Weſens erfaßt, zugleich als In-
dividuum ſeiner Gattung, ſie bekommt die Idee mit. Das Allgemeine im
Einzelnen, das Einzelne als Wirklichkeit des Allgemeinen zu faſſen, dazu
gehört ſo wenig die abſtracte Begriffsbildung, als ihre naturwiſſenſchaftliche
Vorarbeit, jene phyſikaliſche, chemiſche, anatomiſche Analyſe. Der Unter-
ſchied des Begreifens und Anſchauens iſt nicht der, daß dieſem das Allge-
meine verſchloſſen, jenem offen wäre, ſondern daß jenes auf begründete,
durch Trennung, Entgegenſetzung und Wiedervereinigung vermittelte und
in Bewußtſein des Bewußtſeins erhobene Weiſe daſſelbe Allgemeine im
Einzelnen hat, wie dieſes auf gefundene, unmittelbare und einfach bewußte.
Allein die Anſchauung erfaßt jedes Einzelne nur in der Trübung durch
den ſtörenden Zufall, den wir als überall und immer herrſchenden ſchon
kennen. Das Begreifen begreift auch dieſen in ſeiner Nothwendigkeit und
in ſeiner unendlichen Aufhebung (§. 52). Die Anſchauung aber über-
ſchaut nicht den unendlichen Gang dieſer Aufhebung. Der Geiſt ſoll auf
dem Wege, den ſie betreten, ein dieſem Wege eigenes Mittel finden,
die Trübung auszuſcheiden. Die Anſchauung als ſolche hat dieſes Mittel
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