Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
Gefangenen, den Kranken, jeden Unglücklichen in das Land des Wunsches 2. In dieser Synthese ist das Verhältniß des Subjects zu seinen Der sittliche Geist hält die gaukelnde Flucht der bestechenden Bilder
Gefangenen, den Kranken, jeden Unglücklichen in das Land des Wunſches 2. In dieſer Syntheſe iſt das Verhältniß des Subjects zu ſeinen Der ſittliche Geiſt hält die gaukelnde Flucht der beſtechenden Bilder <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0042" n="328"/> Gefangenen, den Kranken, jeden Unglücklichen in das Land des Wunſches<lb/> entführt, aber auch einen Chor von verlockenden Dämonen, die Mephi-<lb/> ſtopheles „die Kleinen von den Seinen“ nennt. Der Menſch kann dieſen<lb/> zauberkundigen Diener in jeder Weiſe zu ſeinem Dienſte verwenden und<lb/> lebt durch ihn mitten im Leben immer ein zweites Leben. Der §. nennt<lb/> dieß Verhältniß (nicht die eigentliche Phantaſie, wie Hegel) eine Syntheſe.<lb/> Wir gehen nämlich zunächſt, <hi rendition="#g">ohne umzuſehen</hi>, den geraden Weg, der<lb/> von der Anſchauung zur Phantaſie führt, aber wir müßen doch den con-<lb/> creten Geiſt, der ſo oder ſo mit Gehalt erfüllt iſt, nebenherführen, die<lb/> Beziehungen, in die er zu den uns getrennt vorliegenden Thätigkeiten treten<lb/> kann, ſeitlich in’s Auge faſſen, um dann am rechten Punkte beide Linien<lb/> zu vereinigen. In der Einbildungskraft nun gießt ſich der Geiſt noch nicht<lb/> mit ſeiner erfüllten Unendlichkeit in ſeine Bilderwelt; ſie umgaukelt ihn,<lb/> ſie reißt ihn fort, ſie dient ihm und beherrſcht ihn, wie es kommt. Dieß<lb/> äußerliche Verhältniß iſt (bloße) Syntheſe.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. In dieſer Syntheſe iſt das Verhältniß des Subjects zu ſeinen<lb/> Bildern zunächſt ein ſtoffartiges, eine Beziehung des Intereſſe’s (§. 75),<lb/> und die erſte Form iſt, wie ſchon berührt, das ſinnliche Intereſſe, per-<lb/> ſönliche Neigung und Abneigung, Begierde und Abſcheu. Jeder weiß,<lb/> daß die Einbildungskraft ſogleich in prickelnde Thätigkeit tritt und zu<lb/> weben anfängt, wenn Hunger, Eitelkeit, lebhafter Wunſch des Beſitzes,<lb/> unmächtige Racheluſt nach Mitteln ſucht; da ſehen wir uns ſelbſt, wie<lb/> wir zaubern und bezaubern, uns unſichtbar machen können, uns durch<lb/> die Kuchenmauer des Schlaraffenlands eſſen. Aber nicht nur dieß: <hi rendition="#g">alle</hi><lb/> perſönliche Leidenſchaft und ganz abgeſehen von Erdichtung dienſtreicher<lb/> Wunder iſt nicht durch die bloße Anſchauung, ſondern weſentlich erſt durch<lb/> die Einbildungskraft vermittelt. Der Menſch verſieht ſich in ſein Bild und<lb/> jede Handlung der Leidenſchaft iſt Ausführung nach dieſem imagina-<lb/> tiven Concepte. Daher hat der lebhafte Menſch nicht einmal Freude am<lb/> Gelingen, wenn es dieſem Bilde nicht entſpricht, wenn ihm ſein Bild<lb/> in’s Waſſer fällt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Der ſittliche Geiſt hält die gaukelnde Flucht der beſtechenden Bilder<lb/> an, das wahre Bild des Lebens durch berichtigende Vergleichung mit der<lb/> Anſchauung in ſeinen Mängeln feſt, um darauf den Plan ſeines Handelns<lb/> zu bauen; der denkende geht zunächſt ebenfalls vom Willensacte dieſes<lb/> Einhaltens aus, bildet die Vorſtellung im engern Sinne, eine Zuſammen-<lb/> faſſung der weſentlichen, Ausſcheidung der unweſentlichen Züge, doch nur<lb/> zum Zwecke der weiteren Auflöſung in den abſtracten Begriff, den nur<lb/> noch wie ein Schatten das bleiche „Gemeinbild“ begleitet. Auch dieſe beiden<lb/> Arten des Intereſſe’s ſind ſtoffartig und daher außer-äſthetiſch (vergl.<lb/> §. 76 u. 78).</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [328/0042]
Gefangenen, den Kranken, jeden Unglücklichen in das Land des Wunſches
entführt, aber auch einen Chor von verlockenden Dämonen, die Mephi-
ſtopheles „die Kleinen von den Seinen“ nennt. Der Menſch kann dieſen
zauberkundigen Diener in jeder Weiſe zu ſeinem Dienſte verwenden und
lebt durch ihn mitten im Leben immer ein zweites Leben. Der §. nennt
dieß Verhältniß (nicht die eigentliche Phantaſie, wie Hegel) eine Syntheſe.
Wir gehen nämlich zunächſt, ohne umzuſehen, den geraden Weg, der
von der Anſchauung zur Phantaſie führt, aber wir müßen doch den con-
creten Geiſt, der ſo oder ſo mit Gehalt erfüllt iſt, nebenherführen, die
Beziehungen, in die er zu den uns getrennt vorliegenden Thätigkeiten treten
kann, ſeitlich in’s Auge faſſen, um dann am rechten Punkte beide Linien
zu vereinigen. In der Einbildungskraft nun gießt ſich der Geiſt noch nicht
mit ſeiner erfüllten Unendlichkeit in ſeine Bilderwelt; ſie umgaukelt ihn,
ſie reißt ihn fort, ſie dient ihm und beherrſcht ihn, wie es kommt. Dieß
äußerliche Verhältniß iſt (bloße) Syntheſe.
2. In dieſer Syntheſe iſt das Verhältniß des Subjects zu ſeinen
Bildern zunächſt ein ſtoffartiges, eine Beziehung des Intereſſe’s (§. 75),
und die erſte Form iſt, wie ſchon berührt, das ſinnliche Intereſſe, per-
ſönliche Neigung und Abneigung, Begierde und Abſcheu. Jeder weiß,
daß die Einbildungskraft ſogleich in prickelnde Thätigkeit tritt und zu
weben anfängt, wenn Hunger, Eitelkeit, lebhafter Wunſch des Beſitzes,
unmächtige Racheluſt nach Mitteln ſucht; da ſehen wir uns ſelbſt, wie
wir zaubern und bezaubern, uns unſichtbar machen können, uns durch
die Kuchenmauer des Schlaraffenlands eſſen. Aber nicht nur dieß: alle
perſönliche Leidenſchaft und ganz abgeſehen von Erdichtung dienſtreicher
Wunder iſt nicht durch die bloße Anſchauung, ſondern weſentlich erſt durch
die Einbildungskraft vermittelt. Der Menſch verſieht ſich in ſein Bild und
jede Handlung der Leidenſchaft iſt Ausführung nach dieſem imagina-
tiven Concepte. Daher hat der lebhafte Menſch nicht einmal Freude am
Gelingen, wenn es dieſem Bilde nicht entſpricht, wenn ihm ſein Bild
in’s Waſſer fällt.
Der ſittliche Geiſt hält die gaukelnde Flucht der beſtechenden Bilder
an, das wahre Bild des Lebens durch berichtigende Vergleichung mit der
Anſchauung in ſeinen Mängeln feſt, um darauf den Plan ſeines Handelns
zu bauen; der denkende geht zunächſt ebenfalls vom Willensacte dieſes
Einhaltens aus, bildet die Vorſtellung im engern Sinne, eine Zuſammen-
faſſung der weſentlichen, Ausſcheidung der unweſentlichen Züge, doch nur
zum Zwecke der weiteren Auflöſung in den abſtracten Begriff, den nur
noch wie ein Schatten das bleiche „Gemeinbild“ begleitet. Auch dieſe beiden
Arten des Intereſſe’s ſind ſtoffartig und daher außer-äſthetiſch (vergl.
§. 76 u. 78).
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