Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

3. Wenn diese drei Formen des Interesse's ganz zur Seite liegen,
warum führen wir sie dennoch auf? Deßwegen, weil die Phantasie die-
selben, aber als überwunden, nicht als Formen, welche auf dem Wege
zu ihr führen, aber als seitliche Ströme, die ihr zugeflossen sein müßen,
voraussetzt. Der Genius muß viel und heiß von der Leidenschaft bewegt
worden sein, er muß ihre tiefsten Stürme, er muß der Menschheit ganze
Freude und ganzen Jammer an sich erfahren haben (Werther's Leiden,
Faust, Tasso: Selbstbekenntnisse). Der Genius muß aber auch von sitt-
lichem Interesse für die großen Fragen der Menschheit und ebenso von
Wiß- und Erkenntniß-Begierde bewegt sein. Die Probe der Leidenschaften
wird ohne Schuld nicht ablaufen, aber die Stärke der sittlichen Heilkraft
wird zur glücklichen Krisis führen (Shakespeare's Jugendsünden, Tiecks
Darstellung und Zusammenstellung mit R. Green und Marlowe im
Dichterleben); aber vor Allem für das sittliche Leben im Großen muß
die Brust voll Theilnahme sein. Reiche Kenntnisse, Verstand und Verständ-
niß werden die Lebendigkeit des theoretischen Geistes bewähren. Aber
Leidenschaftlichkeit, Wille des Handelns, Drang und pädagogischer, politi-
scher Wissenstrieb darf nicht das Bestimmende im Charakter des Genius
sein, insbesondere der Wissensdrang nicht auf die letzten Gründe,
sondern nur auf ein Eindringen, Verstehen der Beziehungen und Ver-
mittlungen gehen, er muß die lebendige Form als unaufgelösten, schließlichen
Anhalt stehen lassen. Der Dichter darf nicht Philosoph sein; Göthe war z. E.
gelehrter Botaniker, träumte aber von einer absoluten Pflanze als etwas
Wirklichem. Was nun mit dem Sturm der Leidenschaft, was mit dem
sittlichen und theoretischen Interesse vor sich gegangen sein muß, wenn
diese Bewegungen in die Phantasie als aufgehobene Momente aufgehen
sollen, wird sich zeigen. Hier fragt sich nur noch, wie weit auch in dieser
Stufe des Prozesses die allgemeine Phantasie mitgehe. Das Spiel der
Einbildungskraft ist es recht eigentlich, wo sie zu Hause ist; hierin ist
jeder wohlorganisirte Mensch und sind vor Allem alle noch nicht verbildeten
Völker Dichter. Das Interesse aber, sowohl das der Leidenschaft, als
das ethisch praktische und theoretische ist dem Genius in besonderer Wärme
und Fülle eigen; er lebt ein volleres Leben, als die Masse, und seine
Werke bezeugen eine innigere Sympathie mit den Nerven des allgemeinen
Lebens, mit dem, was packt, erschüttert, den innersten Menschen mit
tausend Fragen beschäftigt. Er scheint Eins mit dem Lebensblute des
Menschenlebens, sein Herz erweitert sich zum Herzen der Welt und wenn
seine Werke den Zuschauer im Innersten schütteln, so muß dieser sich
verwundert fragen, wie stumpf er ohne ihn an dem Großen und Mäch-
tigen vorübergegangen wäre. Und doch macht dieß allein noch gar nicht den
Dichter und wissen wir, wenn wir sein bewegtes Herz kennen, noch nichts

3. Wenn dieſe drei Formen des Intereſſe’s ganz zur Seite liegen,
warum führen wir ſie dennoch auf? Deßwegen, weil die Phantaſie die-
ſelben, aber als überwunden, nicht als Formen, welche auf dem Wege
zu ihr führen, aber als ſeitliche Ströme, die ihr zugefloſſen ſein müßen,
vorausſetzt. Der Genius muß viel und heiß von der Leidenſchaft bewegt
worden ſein, er muß ihre tiefſten Stürme, er muß der Menſchheit ganze
Freude und ganzen Jammer an ſich erfahren haben (Werther’s Leiden,
Fauſt, Taſſo: Selbſtbekenntniſſe). Der Genius muß aber auch von ſitt-
lichem Intereſſe für die großen Fragen der Menſchheit und ebenſo von
Wiß- und Erkenntniß-Begierde bewegt ſein. Die Probe der Leidenſchaften
wird ohne Schuld nicht ablaufen, aber die Stärke der ſittlichen Heilkraft
wird zur glücklichen Kriſis führen (Shakespeare’s Jugendſünden, Tiecks
Darſtellung und Zuſammenſtellung mit R. Green und Marlowe im
Dichterleben); aber vor Allem für das ſittliche Leben im Großen muß
die Bruſt voll Theilnahme ſein. Reiche Kenntniſſe, Verſtand und Verſtänd-
niß werden die Lebendigkeit des theoretiſchen Geiſtes bewähren. Aber
Leidenſchaftlichkeit, Wille des Handelns, Drang und pädagogiſcher, politi-
ſcher Wiſſenstrieb darf nicht das Beſtimmende im Charakter des Genius
ſein, insbeſondere der Wiſſensdrang nicht auf die letzten Gründe,
ſondern nur auf ein Eindringen, Verſtehen der Beziehungen und Ver-
mittlungen gehen, er muß die lebendige Form als unaufgelösten, ſchließlichen
Anhalt ſtehen laſſen. Der Dichter darf nicht Philoſoph ſein; Göthe war z. E.
gelehrter Botaniker, träumte aber von einer abſoluten Pflanze als etwas
Wirklichem. Was nun mit dem Sturm der Leidenſchaft, was mit dem
ſittlichen und theoretiſchen Intereſſe vor ſich gegangen ſein muß, wenn
dieſe Bewegungen in die Phantaſie als aufgehobene Momente aufgehen
ſollen, wird ſich zeigen. Hier fragt ſich nur noch, wie weit auch in dieſer
Stufe des Prozeſſes die allgemeine Phantaſie mitgehe. Das Spiel der
Einbildungskraft iſt es recht eigentlich, wo ſie zu Hauſe iſt; hierin iſt
jeder wohlorganiſirte Menſch und ſind vor Allem alle noch nicht verbildeten
Völker Dichter. Das Intereſſe aber, ſowohl das der Leidenſchaft, als
das ethiſch praktiſche und theoretiſche iſt dem Genius in beſonderer Wärme
und Fülle eigen; er lebt ein volleres Leben, als die Maſſe, und ſeine
Werke bezeugen eine innigere Sympathie mit den Nerven des allgemeinen
Lebens, mit dem, was packt, erſchüttert, den innerſten Menſchen mit
tauſend Fragen beſchäftigt. Er ſcheint Eins mit dem Lebensblute des
Menſchenlebens, ſein Herz erweitert ſich zum Herzen der Welt und wenn
ſeine Werke den Zuſchauer im Innerſten ſchütteln, ſo muß dieſer ſich
verwundert fragen, wie ſtumpf er ohne ihn an dem Großen und Mäch-
tigen vorübergegangen wäre. Und doch macht dieß allein noch gar nicht den
Dichter und wiſſen wir, wenn wir ſein bewegtes Herz kennen, noch nichts

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <pb facs="#f0043" n="329"/>
                  <p> <hi rendition="#et">3. Wenn die&#x017F;e drei Formen des Intere&#x017F;&#x017F;e&#x2019;s ganz zur Seite liegen,<lb/>
warum führen wir &#x017F;ie dennoch auf? Deßwegen, weil die Phanta&#x017F;ie die-<lb/>
&#x017F;elben, aber als überwunden, nicht als Formen, welche auf dem Wege<lb/>
zu ihr führen, aber als &#x017F;eitliche Ströme, die ihr zugeflo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ein müßen,<lb/>
voraus&#x017F;etzt. Der Genius muß viel und heiß von der Leiden&#x017F;chaft bewegt<lb/>
worden &#x017F;ein, er muß ihre tief&#x017F;ten Stürme, er muß der Men&#x017F;chheit ganze<lb/>
Freude und ganzen Jammer an &#x017F;ich erfahren haben (Werther&#x2019;s Leiden,<lb/>
Fau&#x017F;t, Ta&#x017F;&#x017F;o: Selb&#x017F;tbekenntni&#x017F;&#x017F;e). Der Genius muß aber auch von &#x017F;itt-<lb/>
lichem Intere&#x017F;&#x017F;e für die großen Fragen der Men&#x017F;chheit und eben&#x017F;o von<lb/>
Wiß- und Erkenntniß-Begierde bewegt &#x017F;ein. Die Probe der Leiden&#x017F;chaften<lb/>
wird ohne Schuld nicht ablaufen, aber die Stärke der &#x017F;ittlichen Heilkraft<lb/>
wird zur glücklichen Kri&#x017F;is führen (Shakespeare&#x2019;s Jugend&#x017F;ünden, Tiecks<lb/>
Dar&#x017F;tellung und Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellung mit R. Green und Marlowe im<lb/>
Dichterleben); aber vor Allem für das &#x017F;ittliche Leben im Großen muß<lb/>
die Bru&#x017F;t voll Theilnahme &#x017F;ein. Reiche Kenntni&#x017F;&#x017F;e, Ver&#x017F;tand und Ver&#x017F;tänd-<lb/>
niß werden die Lebendigkeit des theoreti&#x017F;chen Gei&#x017F;tes bewähren. Aber<lb/>
Leiden&#x017F;chaftlichkeit, Wille des Handelns, Drang und pädagogi&#x017F;cher, politi-<lb/>
&#x017F;cher Wi&#x017F;&#x017F;enstrieb darf nicht das Be&#x017F;timmende im Charakter des Genius<lb/>
&#x017F;ein, insbe&#x017F;ondere der Wi&#x017F;&#x017F;ensdrang nicht auf die <hi rendition="#g">letzten Gründe</hi>,<lb/>
&#x017F;ondern nur auf ein Eindringen, Ver&#x017F;tehen der Beziehungen und Ver-<lb/>
mittlungen gehen, er muß die lebendige Form als unaufgelösten, &#x017F;chließlichen<lb/>
Anhalt &#x017F;tehen la&#x017F;&#x017F;en. Der Dichter darf nicht Philo&#x017F;oph &#x017F;ein; Göthe war z. E.<lb/>
gelehrter Botaniker, träumte aber von einer ab&#x017F;oluten Pflanze als etwas<lb/>
Wirklichem. Was nun mit dem Sturm der Leiden&#x017F;chaft, was mit dem<lb/>
&#x017F;ittlichen und theoreti&#x017F;chen Intere&#x017F;&#x017F;e vor &#x017F;ich gegangen &#x017F;ein muß, wenn<lb/>
die&#x017F;e Bewegungen in die Phanta&#x017F;ie als aufgehobene Momente aufgehen<lb/>
&#x017F;ollen, wird &#x017F;ich zeigen. Hier fragt &#x017F;ich nur noch, wie weit auch in die&#x017F;er<lb/>
Stufe des Proze&#x017F;&#x017F;es die allgemeine Phanta&#x017F;ie mitgehe. Das Spiel der<lb/>
Einbildungskraft i&#x017F;t es recht eigentlich, wo &#x017F;ie zu Hau&#x017F;e i&#x017F;t; hierin i&#x017F;t<lb/>
jeder wohlorgani&#x017F;irte Men&#x017F;ch und &#x017F;ind vor Allem alle noch nicht verbildeten<lb/>
Völker Dichter. Das Intere&#x017F;&#x017F;e aber, &#x017F;owohl das der Leiden&#x017F;chaft, als<lb/>
das ethi&#x017F;ch prakti&#x017F;che und theoreti&#x017F;che i&#x017F;t dem Genius in be&#x017F;onderer Wärme<lb/>
und Fülle eigen; er lebt ein volleres Leben, als die Ma&#x017F;&#x017F;e, und &#x017F;eine<lb/>
Werke bezeugen eine innigere Sympathie mit den Nerven des allgemeinen<lb/>
Lebens, mit dem, was packt, er&#x017F;chüttert, den inner&#x017F;ten Men&#x017F;chen mit<lb/>
tau&#x017F;end Fragen be&#x017F;chäftigt. Er &#x017F;cheint Eins mit dem Lebensblute des<lb/>
Men&#x017F;chenlebens, &#x017F;ein Herz erweitert &#x017F;ich zum Herzen der Welt und wenn<lb/>
&#x017F;eine Werke den Zu&#x017F;chauer im Inner&#x017F;ten &#x017F;chütteln, &#x017F;o muß die&#x017F;er &#x017F;ich<lb/>
verwundert fragen, wie &#x017F;tumpf er ohne ihn an dem Großen und Mäch-<lb/>
tigen vorübergegangen wäre. Und doch macht dieß allein noch gar nicht den<lb/>
Dichter und wi&#x017F;&#x017F;en wir, wenn wir &#x017F;ein bewegtes Herz kennen, noch nichts<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[329/0043] 3. Wenn dieſe drei Formen des Intereſſe’s ganz zur Seite liegen, warum führen wir ſie dennoch auf? Deßwegen, weil die Phantaſie die- ſelben, aber als überwunden, nicht als Formen, welche auf dem Wege zu ihr führen, aber als ſeitliche Ströme, die ihr zugefloſſen ſein müßen, vorausſetzt. Der Genius muß viel und heiß von der Leidenſchaft bewegt worden ſein, er muß ihre tiefſten Stürme, er muß der Menſchheit ganze Freude und ganzen Jammer an ſich erfahren haben (Werther’s Leiden, Fauſt, Taſſo: Selbſtbekenntniſſe). Der Genius muß aber auch von ſitt- lichem Intereſſe für die großen Fragen der Menſchheit und ebenſo von Wiß- und Erkenntniß-Begierde bewegt ſein. Die Probe der Leidenſchaften wird ohne Schuld nicht ablaufen, aber die Stärke der ſittlichen Heilkraft wird zur glücklichen Kriſis führen (Shakespeare’s Jugendſünden, Tiecks Darſtellung und Zuſammenſtellung mit R. Green und Marlowe im Dichterleben); aber vor Allem für das ſittliche Leben im Großen muß die Bruſt voll Theilnahme ſein. Reiche Kenntniſſe, Verſtand und Verſtänd- niß werden die Lebendigkeit des theoretiſchen Geiſtes bewähren. Aber Leidenſchaftlichkeit, Wille des Handelns, Drang und pädagogiſcher, politi- ſcher Wiſſenstrieb darf nicht das Beſtimmende im Charakter des Genius ſein, insbeſondere der Wiſſensdrang nicht auf die letzten Gründe, ſondern nur auf ein Eindringen, Verſtehen der Beziehungen und Ver- mittlungen gehen, er muß die lebendige Form als unaufgelösten, ſchließlichen Anhalt ſtehen laſſen. Der Dichter darf nicht Philoſoph ſein; Göthe war z. E. gelehrter Botaniker, träumte aber von einer abſoluten Pflanze als etwas Wirklichem. Was nun mit dem Sturm der Leidenſchaft, was mit dem ſittlichen und theoretiſchen Intereſſe vor ſich gegangen ſein muß, wenn dieſe Bewegungen in die Phantaſie als aufgehobene Momente aufgehen ſollen, wird ſich zeigen. Hier fragt ſich nur noch, wie weit auch in dieſer Stufe des Prozeſſes die allgemeine Phantaſie mitgehe. Das Spiel der Einbildungskraft iſt es recht eigentlich, wo ſie zu Hauſe iſt; hierin iſt jeder wohlorganiſirte Menſch und ſind vor Allem alle noch nicht verbildeten Völker Dichter. Das Intereſſe aber, ſowohl das der Leidenſchaft, als das ethiſch praktiſche und theoretiſche iſt dem Genius in beſonderer Wärme und Fülle eigen; er lebt ein volleres Leben, als die Maſſe, und ſeine Werke bezeugen eine innigere Sympathie mit den Nerven des allgemeinen Lebens, mit dem, was packt, erſchüttert, den innerſten Menſchen mit tauſend Fragen beſchäftigt. Er ſcheint Eins mit dem Lebensblute des Menſchenlebens, ſein Herz erweitert ſich zum Herzen der Welt und wenn ſeine Werke den Zuſchauer im Innerſten ſchütteln, ſo muß dieſer ſich verwundert fragen, wie ſtumpf er ohne ihn an dem Großen und Mäch- tigen vorübergegangen wäre. Und doch macht dieß allein noch gar nicht den Dichter und wiſſen wir, wenn wir ſein bewegtes Herz kennen, noch nichts

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/43
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/43>, abgerufen am 09.11.2024.