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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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und darf denn die Phantasie gar nicht frei erfinden? Wenn z. B. der
dramatische Dichter, bewegt vom Geiste seiner Zeit, eine Fabel durchführt,
worin dieser ergreifenden Ausdruck findet, muß er denn einen wirklichen
oder erzählten Vorgang zu Grunde legen? Genügt es nicht, daß Ein-
führung einzelner Personen, daß einzelne Scenen, Züge auf Erinnerung
an unmittelbar oder (durch Ueberlieferung) mittelbar geschaute Naturschön-
heit beruhen? Wir antworten zunächst: besser ist es gewiß immer, wenn
die Fabel eine gegebene ist. Schiller fühlt sich durch den streng geschicht-
lichen Stoff seines Wallenstein heilsam beschränkt und gespornt; aber selbst
dem Don Carlos liegt Geschichte zu Grunde. Wird aber der Stoff, die
Fabel auch vermeintlich ganz ersonnen, so wird bei genauerer Selbstprü-
fung der Dichter immer finden, daß die einzelnen Personen, Scenen, Züge,
die er auf der Grundlage der Anschauung gebildet hat und nur einzu-
flechten meint, es vielmehr sind, die den Gedanken der Fabel durch Ent-
faltung der in ihnen liegenden Keime in ihm weckten. Ein Maler, ein
Dichter sieht eine Gestalt, eine Scene; daran schießt ihm wie an einen
Magnet seine innere Welt an, er erweitert den unscheinbaren Keim zum
Baume des Kunstwerks; aber der Keim, der Magnet war gegeben. Dieß
kann völlig in der Weise geschehen, wie wir sie später als die des My-
thus werden kennen lernen, nämlich es kann eine Erfindung entstehen als
erläuternder Commentar einer Anschauung. Dafür stehe hier folgendes
merkwürdige Beispiel: Zschocke erzählt in seiner Selbstschau, wie er mit
H. von Kleist und einem Sohne Wielands irgendwo einen französischen
Kupferstich sah: la cruche cassee. "Wir glaubten ein trauriges Liebes-
pärchen, eine keifende Mutter mit einem Majolika-Kruge und einen groß-
nasigen Richter zu erkennen. Für L. Wieland sollte dieß Aufgabe zu einer
Satyre, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung wer-
den." So ist Kleists meisterhafte Komödie: der zerbrochene Krug ent-
standen. Die Fabeln des Aristophanes und der Komödie überhaupt sind
meist ersonnen, aber sie sind Expositionen von Charakterbildern und Zeit-
motiven, die sich vielfach und mit starken Eindrücken dem Dichter in der
Wirklichkeit dargestellt hatten. Immer jedoch wird, wenn nur diese Ele-
mente gegeben sind, nicht aber eine ganze Fabel durch Anschauung, Ge-
schichte, durch Sage dargeboten ist, die Gefahr da sein, daß in den Cha-
rakteren und einzelnen Zügen zwar Phantasie, in der Fabel aber Willkübr,
bloße Combination, bloße Einbildungskraft thätig ist. Uebrigens soll da-
durch die Freiheit der Umbildung im Ganzen keineswegs verkümmert
werden, nur sind in abstracto die Grenzen nicht zu bestimmen. Ein ver-
einzelter, socialer, novellenhafter Stoff z. B. läßt totale Umänderung der
Katastrophe (aus einer unglücklichen in eine glückliche und umgekehrt) zu,
ein großer geschichtlicher nicht. Die griechische Tragödie hatte den großen

und darf denn die Phantaſie gar nicht frei erfinden? Wenn z. B. der
dramatiſche Dichter, bewegt vom Geiſte ſeiner Zeit, eine Fabel durchführt,
worin dieſer ergreifenden Ausdruck findet, muß er denn einen wirklichen
oder erzählten Vorgang zu Grunde legen? Genügt es nicht, daß Ein-
führung einzelner Perſonen, daß einzelne Scenen, Züge auf Erinnerung
an unmittelbar oder (durch Ueberlieferung) mittelbar geſchaute Naturſchön-
heit beruhen? Wir antworten zunächſt: beſſer iſt es gewiß immer, wenn
die Fabel eine gegebene iſt. Schiller fühlt ſich durch den ſtreng geſchicht-
lichen Stoff ſeines Wallenſtein heilſam beſchränkt und geſpornt; aber ſelbſt
dem Don Carlos liegt Geſchichte zu Grunde. Wird aber der Stoff, die
Fabel auch vermeintlich ganz erſonnen, ſo wird bei genauerer Selbſtprü-
fung der Dichter immer finden, daß die einzelnen Perſonen, Scenen, Züge,
die er auf der Grundlage der Anſchauung gebildet hat und nur einzu-
flechten meint, es vielmehr ſind, die den Gedanken der Fabel durch Ent-
faltung der in ihnen liegenden Keime in ihm weckten. Ein Maler, ein
Dichter ſieht eine Geſtalt, eine Scene; daran ſchießt ihm wie an einen
Magnet ſeine innere Welt an, er erweitert den unſcheinbaren Keim zum
Baume des Kunſtwerks; aber der Keim, der Magnet war gegeben. Dieß
kann völlig in der Weiſe geſchehen, wie wir ſie ſpäter als die des My-
thus werden kennen lernen, nämlich es kann eine Erfindung entſtehen als
erläuternder Commentar einer Anſchauung. Dafür ſtehe hier folgendes
merkwürdige Beiſpiel: Zſchocke erzählt in ſeiner Selbſtſchau, wie er mit
H. von Kleiſt und einem Sohne Wielands irgendwo einen franzöſiſchen
Kupferſtich ſah: la cruche cassée. „Wir glaubten ein trauriges Liebes-
pärchen, eine keifende Mutter mit einem Majolika-Kruge und einen groß-
naſigen Richter zu erkennen. Für L. Wieland ſollte dieß Aufgabe zu einer
Satyre, für Kleiſt zu einem Luſtſpiele, für mich zu einer Erzählung wer-
den.“ So iſt Kleiſts meiſterhafte Komödie: der zerbrochene Krug ent-
ſtanden. Die Fabeln des Ariſtophanes und der Komödie überhaupt ſind
meiſt erſonnen, aber ſie ſind Expoſitionen von Charakterbildern und Zeit-
motiven, die ſich vielfach und mit ſtarken Eindrücken dem Dichter in der
Wirklichkeit dargeſtellt hatten. Immer jedoch wird, wenn nur dieſe Ele-
mente gegeben ſind, nicht aber eine ganze Fabel durch Anſchauung, Ge-
ſchichte, durch Sage dargeboten iſt, die Gefahr da ſein, daß in den Cha-
rakteren und einzelnen Zügen zwar Phantaſie, in der Fabel aber Willkübr,
bloße Combination, bloße Einbildungskraft thätig iſt. Uebrigens ſoll da-
durch die Freiheit der Umbildung im Ganzen keineswegs verkümmert
werden, nur ſind in abſtracto die Grenzen nicht zu beſtimmen. Ein ver-
einzelter, ſocialer, novellenhafter Stoff z. B. läßt totale Umänderung der
Kataſtrophe (aus einer unglücklichen in eine glückliche und umgekehrt) zu,
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[342/0056] und darf denn die Phantaſie gar nicht frei erfinden? Wenn z. B. der dramatiſche Dichter, bewegt vom Geiſte ſeiner Zeit, eine Fabel durchführt, worin dieſer ergreifenden Ausdruck findet, muß er denn einen wirklichen oder erzählten Vorgang zu Grunde legen? Genügt es nicht, daß Ein- führung einzelner Perſonen, daß einzelne Scenen, Züge auf Erinnerung an unmittelbar oder (durch Ueberlieferung) mittelbar geſchaute Naturſchön- heit beruhen? Wir antworten zunächſt: beſſer iſt es gewiß immer, wenn die Fabel eine gegebene iſt. Schiller fühlt ſich durch den ſtreng geſchicht- lichen Stoff ſeines Wallenſtein heilſam beſchränkt und geſpornt; aber ſelbſt dem Don Carlos liegt Geſchichte zu Grunde. Wird aber der Stoff, die Fabel auch vermeintlich ganz erſonnen, ſo wird bei genauerer Selbſtprü- fung der Dichter immer finden, daß die einzelnen Perſonen, Scenen, Züge, die er auf der Grundlage der Anſchauung gebildet hat und nur einzu- flechten meint, es vielmehr ſind, die den Gedanken der Fabel durch Ent- faltung der in ihnen liegenden Keime in ihm weckten. Ein Maler, ein Dichter ſieht eine Geſtalt, eine Scene; daran ſchießt ihm wie an einen Magnet ſeine innere Welt an, er erweitert den unſcheinbaren Keim zum Baume des Kunſtwerks; aber der Keim, der Magnet war gegeben. Dieß kann völlig in der Weiſe geſchehen, wie wir ſie ſpäter als die des My- thus werden kennen lernen, nämlich es kann eine Erfindung entſtehen als erläuternder Commentar einer Anſchauung. Dafür ſtehe hier folgendes merkwürdige Beiſpiel: Zſchocke erzählt in ſeiner Selbſtſchau, wie er mit H. von Kleiſt und einem Sohne Wielands irgendwo einen franzöſiſchen Kupferſtich ſah: la cruche cassée. „Wir glaubten ein trauriges Liebes- pärchen, eine keifende Mutter mit einem Majolika-Kruge und einen groß- naſigen Richter zu erkennen. Für L. Wieland ſollte dieß Aufgabe zu einer Satyre, für Kleiſt zu einem Luſtſpiele, für mich zu einer Erzählung wer- den.“ So iſt Kleiſts meiſterhafte Komödie: der zerbrochene Krug ent- ſtanden. Die Fabeln des Ariſtophanes und der Komödie überhaupt ſind meiſt erſonnen, aber ſie ſind Expoſitionen von Charakterbildern und Zeit- motiven, die ſich vielfach und mit ſtarken Eindrücken dem Dichter in der Wirklichkeit dargeſtellt hatten. Immer jedoch wird, wenn nur dieſe Ele- mente gegeben ſind, nicht aber eine ganze Fabel durch Anſchauung, Ge- ſchichte, durch Sage dargeboten iſt, die Gefahr da ſein, daß in den Cha- rakteren und einzelnen Zügen zwar Phantaſie, in der Fabel aber Willkübr, bloße Combination, bloße Einbildungskraft thätig iſt. Uebrigens ſoll da- durch die Freiheit der Umbildung im Ganzen keineswegs verkümmert werden, nur ſind in abſtracto die Grenzen nicht zu beſtimmen. Ein ver- einzelter, ſocialer, novellenhafter Stoff z. B. läßt totale Umänderung der Kataſtrophe (aus einer unglücklichen in eine glückliche und umgekehrt) zu, ein großer geſchichtlicher nicht. Die griechiſche Tragödie hatte den großen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/56>, abgerufen am 23.11.2024.