Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
der Dichter selbst war, indem er fingirte, wie das Selbsterlebte ohne sitt- §. 394. Das Subject und Object müssen aber in Eines zusammengehen und diese Der vorhergehende §. sprach von den so zu sagen nur historischen
der Dichter ſelbſt war, indem er fingirte, wie das Selbſterlebte ohne ſitt- §. 394. Das Subject und Object müſſen aber in Eines zuſammengehen und dieſe Der vorhergehende §. ſprach von den ſo zu ſagen nur hiſtoriſchen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0058" n="344"/> der Dichter ſelbſt war, indem er fingirte, wie das Selbſterlebte ohne ſitt-<lb/> liche Ueberwindung endigen müßte, indem er dieß in’s Objective hinüber<lb/> warf, völlig frei. — Aber auch was nicht unmittelbar ſelbſterlebt iſt, eine<lb/> vergangene Begebenheit, an der ich nur leidenſchaftlich für oder wider<lb/> Theil genommen, muß mir erſt ſo weit wieder zurück- und gegenüber<lb/> treten, daß ich ſie, ohne die Theilnahme darum zu verlieren, gleichmäßig<lb/> und unbefangen betrachten kann, daß daher ſelbſt die feindlichen Kräfte,<lb/> die darin auftreten, Gerechtigkeit von mir erfahren, ſo feſt ich auch an<lb/> der von ihnen befeindeten Idee halte. Die Hand, die vom Fieber zittert,<lb/> ſagt Hippel, kann das Fieber nicht darſtellen. —</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 394.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Das Subject und Object müſſen aber in Eines zuſammengehen und dieſe<lb/> Bewegung muß mit einem völligen Zurücktreten vom Object, einer Einkehr des<lb/> Subjects in ſich beginnen: ein Zuſtand der <hi rendition="#g">Stimmung</hi>, worin das erſte<lb/> Bild des Gegenſtands in einen geſtaltloſen Uebel verſinkt, aber in der unter-<lb/> ſcheidungslsſen Verſchmelzung deſto inniger das ganze Leben des Selbſt mit ihm<lb/> in Eines aufgeht; eine reine Luſt, worin ſowohl die Erhebung und Entrückung<lb/> aus der Welt des getrübten Daſeins empfunden, als auch die neue Geſtaltung<lb/> geahnt wird; ein Inſichſein, das als Außerſichſein erſcheint; bewußtloſe und<lb/> unwillkührliche Trunkenheit der <hi rendition="#g">Begeiſterung</hi>: der Anfang des dichteriſchen<lb/> Wahuſinns.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Der vorhergehende §. ſprach von den ſo zu ſagen nur hiſtoriſchen<lb/> Vorausſetzungen; der jetzige muß vornen anfangen, den ganzen Act be-<lb/> greiflich zu machen. Das Erſte iſt die Stimmung. Wer dieſen Zuſtand<lb/> nicht kennt, von welchem ſich Göthe und Schiller ſo viel ſchreiben, dieſes<lb/> durch alle Nerven zitternde Gefühl einer unnennbaren Erhöhung, deren<lb/> Grund und Gegenſtand man zunächſt nicht zu ſagen weiß, die Alles rings<lb/> umher in einem unbekannten und doch ſo bekannten neuen Lichte leuchten<lb/> ſieht und doch nichts Einzelnes mehr erfaßt, ſondern nur tief in ſich ſelig<lb/> iſt, der kennt nicht die Geburtsſtätte und Myſterien der ſchaffenden Phan-<lb/> taſie. Dieß erſte Moment ihres Prozeſſes iſt alſo zunächſt ein völliges<lb/> Zurücktreten von Object, denn dieſes ſoll nicht wiederholt, ſondern es ſoll<lb/> ſterben und neugeboren werden. Das Object geht in dieß „ſtille Schat-<lb/> tenland,“ in dieß <hi rendition="#g">Grab</hi> ein, worin es zuerſt erlöſchen ſoll. Wenn ſchon<lb/> der wirkliche Tod und die Zeitferne verklärt („was unſterblich im Geſang<lb/> ſoll leben, muß im Leben untergehn“), ſo muß nun auch das erſte, ſchon<lb/> dem Geiſt gewonnene, aber noch von den Malen der Erdenſchwere be-<lb/> fleckte Bild des Gegenſtands einſinken und ſterben, um neu zu erſtehen.<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [344/0058]
der Dichter ſelbſt war, indem er fingirte, wie das Selbſterlebte ohne ſitt-
liche Ueberwindung endigen müßte, indem er dieß in’s Objective hinüber
warf, völlig frei. — Aber auch was nicht unmittelbar ſelbſterlebt iſt, eine
vergangene Begebenheit, an der ich nur leidenſchaftlich für oder wider
Theil genommen, muß mir erſt ſo weit wieder zurück- und gegenüber
treten, daß ich ſie, ohne die Theilnahme darum zu verlieren, gleichmäßig
und unbefangen betrachten kann, daß daher ſelbſt die feindlichen Kräfte,
die darin auftreten, Gerechtigkeit von mir erfahren, ſo feſt ich auch an
der von ihnen befeindeten Idee halte. Die Hand, die vom Fieber zittert,
ſagt Hippel, kann das Fieber nicht darſtellen. —
§. 394.
Das Subject und Object müſſen aber in Eines zuſammengehen und dieſe
Bewegung muß mit einem völligen Zurücktreten vom Object, einer Einkehr des
Subjects in ſich beginnen: ein Zuſtand der Stimmung, worin das erſte
Bild des Gegenſtands in einen geſtaltloſen Uebel verſinkt, aber in der unter-
ſcheidungslsſen Verſchmelzung deſto inniger das ganze Leben des Selbſt mit ihm
in Eines aufgeht; eine reine Luſt, worin ſowohl die Erhebung und Entrückung
aus der Welt des getrübten Daſeins empfunden, als auch die neue Geſtaltung
geahnt wird; ein Inſichſein, das als Außerſichſein erſcheint; bewußtloſe und
unwillkührliche Trunkenheit der Begeiſterung: der Anfang des dichteriſchen
Wahuſinns.
Der vorhergehende §. ſprach von den ſo zu ſagen nur hiſtoriſchen
Vorausſetzungen; der jetzige muß vornen anfangen, den ganzen Act be-
greiflich zu machen. Das Erſte iſt die Stimmung. Wer dieſen Zuſtand
nicht kennt, von welchem ſich Göthe und Schiller ſo viel ſchreiben, dieſes
durch alle Nerven zitternde Gefühl einer unnennbaren Erhöhung, deren
Grund und Gegenſtand man zunächſt nicht zu ſagen weiß, die Alles rings
umher in einem unbekannten und doch ſo bekannten neuen Lichte leuchten
ſieht und doch nichts Einzelnes mehr erfaßt, ſondern nur tief in ſich ſelig
iſt, der kennt nicht die Geburtsſtätte und Myſterien der ſchaffenden Phan-
taſie. Dieß erſte Moment ihres Prozeſſes iſt alſo zunächſt ein völliges
Zurücktreten von Object, denn dieſes ſoll nicht wiederholt, ſondern es ſoll
ſterben und neugeboren werden. Das Object geht in dieß „ſtille Schat-
tenland,“ in dieß Grab ein, worin es zuerſt erlöſchen ſoll. Wenn ſchon
der wirkliche Tod und die Zeitferne verklärt („was unſterblich im Geſang
ſoll leben, muß im Leben untergehn“), ſo muß nun auch das erſte, ſchon
dem Geiſt gewonnene, aber noch von den Malen der Erdenſchwere be-
fleckte Bild des Gegenſtands einſinken und ſterben, um neu zu erſtehen.
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