Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
nissen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt be- Auf die Grundlage dieser feinen Stellen können wir nun die richtige
niſſen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt be- Auf die Grundlage dieſer feinen Stellen können wir nun die richtige <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0065" n="351"/> niſſen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt be-<lb/> gegnen können und müſſen. „Nun iſt es zwar wahr, daß wir dieſen<lb/> ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegniſſen abſtrahirt haben; es<lb/> folgt aber doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre<lb/> Begegniſſe führen müſſe; er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür-<lb/> licher auf andere bringen, mit welchen jene wirklichen nichts gemein haben,<lb/><hi rendition="#g">als daß ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuver-<lb/> folgenden Umwegen und über Erdſtriche hergefloſſen ſind,<lb/> welche ihre Lauterkeit verdorben haben</hi>.“ Dieſe trübenden Um-<lb/> wege im weiteſten Sinn ſchneidet die Phantaſie ab; die Bezeichnung iſt<lb/> trefflich, nur iſt darin die Frage, wie ſich das Allgemeine und Individuelle<lb/> in dieſer idealen Abbreviatur zueinander verhalte, wieder im Unbeſtimmten<lb/> gelaſſen. Dagegen iſt dieſe Grundfrage in den Stellen aus Hurds Com-<lb/> mentar der Dichtkunſt des Horaz, die Leſſing auführt, im Mittelpunkt er-<lb/> griffen: „wenn ein großer Meiſter ein <hi rendition="#g">einzelnes</hi> Geſicht abmalen ſoll,<lb/> ſo gibt er ihm alle die Lineamente, die er in ihm findet, und <hi rendition="#g">macht es<lb/> Geſichtern der nämlichen Art nur ſo weit ähnlich, als es ohne<lb/> Verletzung des allergeringſten</hi>“ (— dies iſt zu viel —) „<hi rendition="#g">eigen-<lb/> thümlichen Zuges geſchehen kann</hi>“ (N. 92) und (N. 93): „der gute<lb/> Porträtmaler muß die Züge der vorgebildeten Leidenſchaft gut ausgedrückt,<lb/> aber die <hi rendition="#g">mitverbundenen</hi> Eigenſchaften nicht vergeſſen haben.“ In<lb/> der That müſſen alle abſtracten Vorſtellungen vom ſchönen Ideal ſchon<lb/> durch die einzige Erwägung ausgeſchloſſen werden, daß auch das eigent-<lb/> liche Porträt, wenn es Lob verdienen ſoll, ideal ſein muß.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Auf die Grundlage dieſer feinen Stellen können wir nun die richtige<lb/> Beſtimmung bauen. Zu wiederholen iſt alſo, daß von einem Naturſchönen,<lb/> das bereits individuelle Bindung des Allgemeinen iſt, die Phantaſie aus-<lb/> geht. Göthe und Schiller konnten nicht genug darauf dringen: vom Engen<lb/> in’s Weite, vom Beſondern zum Allgemeinen, vom einzelnen Fall zu<lb/> großen Geſetzen, die <hi rendition="#g">in</hi> demſelben geſchaut werden, und ja nicht umgekehrt<lb/> vom Allgemeinen zum Beſondern fortzugehen. Schiller ſelbſt nennt den<lb/> Act, der mit dem Beſonderen vorzunehmen iſt, eine <hi rendition="#g">Reduction</hi> empiriſcher<lb/> Formen auf äſthetiſche, — daſſelbe, was wir zunächſt eine Zuſammenziehung<lb/> nennen. Eine ſolche iſt aber bereits das beſondere Naturſchöne, von wel-<lb/> chem ausgegangen wird: es iſt eine, aber noch unvollkommene, Bindung<lb/> der in die Breite zerſtreuten und vielfach getrübten Formen des Gehalts<lb/> ſeiner Gattung. Dieſe Zuſammenziehung, Bindung iſt es zunächſt,<lb/> wodurch die unendliche, nur ſich ſelbſt gleiche Eigenheit des Indi-<lb/> viduums entſteht. Allein gerade <hi rendition="#g">durch dieſe</hi> Eigenheit iſt die Gattung,<lb/> wie ſchon §. 48, <hi rendition="#sub">2</hi>. gezeigt wurde, nur um ſo energiſcher ausgedrückt, denn<lb/> was dort von bedeutenden Menſchen geſagt iſt, gilt, obwohl mit minderer<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [351/0065]
niſſen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt be-
gegnen können und müſſen. „Nun iſt es zwar wahr, daß wir dieſen
ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegniſſen abſtrahirt haben; es
folgt aber doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre
Begegniſſe führen müſſe; er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür-
licher auf andere bringen, mit welchen jene wirklichen nichts gemein haben,
als daß ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuver-
folgenden Umwegen und über Erdſtriche hergefloſſen ſind,
welche ihre Lauterkeit verdorben haben.“ Dieſe trübenden Um-
wege im weiteſten Sinn ſchneidet die Phantaſie ab; die Bezeichnung iſt
trefflich, nur iſt darin die Frage, wie ſich das Allgemeine und Individuelle
in dieſer idealen Abbreviatur zueinander verhalte, wieder im Unbeſtimmten
gelaſſen. Dagegen iſt dieſe Grundfrage in den Stellen aus Hurds Com-
mentar der Dichtkunſt des Horaz, die Leſſing auführt, im Mittelpunkt er-
griffen: „wenn ein großer Meiſter ein einzelnes Geſicht abmalen ſoll,
ſo gibt er ihm alle die Lineamente, die er in ihm findet, und macht es
Geſichtern der nämlichen Art nur ſo weit ähnlich, als es ohne
Verletzung des allergeringſten“ (— dies iſt zu viel —) „eigen-
thümlichen Zuges geſchehen kann“ (N. 92) und (N. 93): „der gute
Porträtmaler muß die Züge der vorgebildeten Leidenſchaft gut ausgedrückt,
aber die mitverbundenen Eigenſchaften nicht vergeſſen haben.“ In
der That müſſen alle abſtracten Vorſtellungen vom ſchönen Ideal ſchon
durch die einzige Erwägung ausgeſchloſſen werden, daß auch das eigent-
liche Porträt, wenn es Lob verdienen ſoll, ideal ſein muß.
Auf die Grundlage dieſer feinen Stellen können wir nun die richtige
Beſtimmung bauen. Zu wiederholen iſt alſo, daß von einem Naturſchönen,
das bereits individuelle Bindung des Allgemeinen iſt, die Phantaſie aus-
geht. Göthe und Schiller konnten nicht genug darauf dringen: vom Engen
in’s Weite, vom Beſondern zum Allgemeinen, vom einzelnen Fall zu
großen Geſetzen, die in demſelben geſchaut werden, und ja nicht umgekehrt
vom Allgemeinen zum Beſondern fortzugehen. Schiller ſelbſt nennt den
Act, der mit dem Beſonderen vorzunehmen iſt, eine Reduction empiriſcher
Formen auf äſthetiſche, — daſſelbe, was wir zunächſt eine Zuſammenziehung
nennen. Eine ſolche iſt aber bereits das beſondere Naturſchöne, von wel-
chem ausgegangen wird: es iſt eine, aber noch unvollkommene, Bindung
der in die Breite zerſtreuten und vielfach getrübten Formen des Gehalts
ſeiner Gattung. Dieſe Zuſammenziehung, Bindung iſt es zunächſt,
wodurch die unendliche, nur ſich ſelbſt gleiche Eigenheit des Indi-
viduums entſteht. Allein gerade durch dieſe Eigenheit iſt die Gattung,
wie ſchon §. 48, 2. gezeigt wurde, nur um ſo energiſcher ausgedrückt, denn
was dort von bedeutenden Menſchen geſagt iſt, gilt, obwohl mit minderer
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