Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.die von der bildenden Kunst als negativer Anhalt für die allgemeinen Maaße, die von der bildenden Kunſt als negativer Anhalt für die allgemeinen Maaße, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <pb facs="#f0064" n="350"/> <hi rendition="#et">die von der bildenden Kunſt als negativer Anhalt für die allgemeinen Maaße,<lb/> in denen ſie ſich bewegen ſoll, fixirt iſt, und er gilt ja zudem nur von<lb/> der menſchlichen Geſtalt, während hier eine Erklärung der Phantaſiethä-<lb/> tigkeit für das ganze weite Reich ſchöner Objecte geſucht wird (vergl. §.<lb/> 35—38). Wir gehen alſo aus von einem Naturſchönen und dieſes iſt<lb/> bereits eine Concentrirung oder Zuſammenziehung der zerſtreuten Vollkom-<lb/> menheiten ſeiner Gattung in einem Einzelweſen und zwar auf eine un-<lb/> endlich eigene Weiſe. Soll nun dieſe individuelle Bindung zur wahrhaften<lb/> Schönheit erhoben werden, ſo ſcheint ein Widerſpruch vorzuliegen: die<lb/> Individualität ſoll <hi rendition="#g">innerhalb ihrer ſelbſt</hi> zum reinen Ausdruck erhöht<lb/> und: ſie ſoll <hi rendition="#g">allgemein</hi> werden. Geſchieht jenes: ſo wird das unend-<lb/> lich Eigene bis zur Abtrennung von dem Gemeinſamen der Gattung ge-<lb/> trieben; geſchieht dieſes: ſo wird die Eigenheit geopfert. Es wird ent-<lb/> weder „das Geſchlecht in das Individuum verſenkt“ (<hi rendition="#g">Leſſing</hi> Hamb.<lb/> Dram. N. 94 nach <hi rendition="#g">Hurd</hi>) oder das Individuum in das Geſchlecht.<lb/> Leſſing bewegt ſich a. a. O. von N. 87 — 95 um dieſen ſchwierigen<lb/> Punkt, indem er den von Diderot an die mißverſtandene Stelle des Ari-<lb/> ſtoteles Poet. C. 9 gelehnten Satz beſtreitet: die tragiſche Poeſie habe In-<lb/> dividuen, die komiſche Arten darzuſtellen. Er beweiſt, daß jene wie dieſe<lb/> das Allgemeine, daß ſie Arten darzuſtellen habe. Nun kommt er zwar<lb/> nirgends auf die volle Begriffsbeſtimmung, daß die Tragödie und Komödie<lb/> (die letztere freilich vielmehr gerade mit noch viel ſtärkerem Uebergewichte<lb/> des Individuellen), ebenſo aber alle Kunſt das Allgemeine im Indivi-<lb/> duellen zu faſſen habe, aber der Satz des Ariſtoteles, daß die Tragödie<lb/> geſchichtliche, alſo ganz individuelle Charaktere zu Grund lege, hält ihn<lb/> doch, während er nur für das Moment des Allgemeinen ſprechen zu<lb/> müſſen glaubt, am Individuellen feſt, und dieß drückt er mit einem „Zu-<lb/> gleich“ deutlich aus in der inhaltsvollen Stelle: „wenn es wahr iſt, daß<lb/> derjenige komiſche Dichter, welcher ſeinen Perſonen ſo eigene Phyſiog-<lb/> nomieen geben wollte, daß ihnen nur ein einziges Individuum in der Welt<lb/> ähnlich wäre, die Komödie, wie Diderot ſagt, wiederum in ihre Kindheit<lb/> zurückſetzen und in Satyre verkehren würde: ſo iſt es auch ebenſo wahr,<lb/> daß derjenige tragiſche Dichter, welcher nur den und den Menſchen, nur<lb/> den Cäſar, nur den Cato, nach allen den Eigenthümlichkeiten, die wir von<lb/> ihnen wiſſen, vorſtellen wollte, ohne <hi rendition="#g">zugleich</hi> zu zeigen, wie alle dieſe<lb/> Eigenthümlichkeiten mit dem Charakter des Cäſar und Cato zuſammenge-<lb/> hangen, <hi rendition="#g">der ihnen mit mehreren gemein ſei</hi>, daß, ſage ich, dieſer<lb/> die Tragödie entkräften und zur Geſchichte erniedrigen würde“ (a. a. O.<lb/> N. 89). Später (in N. 91) ſagt er nach Ariſtoteles, der Tragiker lege<lb/> geſchichtlich bekannte Charaktere zu Grunde, nicht um das Gedächtniß deſſen,<lb/> was ihnen begegnet iſt, zu erneuern, ſondern um uns mit ſolchen Begeg-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [350/0064]
die von der bildenden Kunſt als negativer Anhalt für die allgemeinen Maaße,
in denen ſie ſich bewegen ſoll, fixirt iſt, und er gilt ja zudem nur von
der menſchlichen Geſtalt, während hier eine Erklärung der Phantaſiethä-
tigkeit für das ganze weite Reich ſchöner Objecte geſucht wird (vergl. §.
35—38). Wir gehen alſo aus von einem Naturſchönen und dieſes iſt
bereits eine Concentrirung oder Zuſammenziehung der zerſtreuten Vollkom-
menheiten ſeiner Gattung in einem Einzelweſen und zwar auf eine un-
endlich eigene Weiſe. Soll nun dieſe individuelle Bindung zur wahrhaften
Schönheit erhoben werden, ſo ſcheint ein Widerſpruch vorzuliegen: die
Individualität ſoll innerhalb ihrer ſelbſt zum reinen Ausdruck erhöht
und: ſie ſoll allgemein werden. Geſchieht jenes: ſo wird das unend-
lich Eigene bis zur Abtrennung von dem Gemeinſamen der Gattung ge-
trieben; geſchieht dieſes: ſo wird die Eigenheit geopfert. Es wird ent-
weder „das Geſchlecht in das Individuum verſenkt“ (Leſſing Hamb.
Dram. N. 94 nach Hurd) oder das Individuum in das Geſchlecht.
Leſſing bewegt ſich a. a. O. von N. 87 — 95 um dieſen ſchwierigen
Punkt, indem er den von Diderot an die mißverſtandene Stelle des Ari-
ſtoteles Poet. C. 9 gelehnten Satz beſtreitet: die tragiſche Poeſie habe In-
dividuen, die komiſche Arten darzuſtellen. Er beweiſt, daß jene wie dieſe
das Allgemeine, daß ſie Arten darzuſtellen habe. Nun kommt er zwar
nirgends auf die volle Begriffsbeſtimmung, daß die Tragödie und Komödie
(die letztere freilich vielmehr gerade mit noch viel ſtärkerem Uebergewichte
des Individuellen), ebenſo aber alle Kunſt das Allgemeine im Indivi-
duellen zu faſſen habe, aber der Satz des Ariſtoteles, daß die Tragödie
geſchichtliche, alſo ganz individuelle Charaktere zu Grund lege, hält ihn
doch, während er nur für das Moment des Allgemeinen ſprechen zu
müſſen glaubt, am Individuellen feſt, und dieß drückt er mit einem „Zu-
gleich“ deutlich aus in der inhaltsvollen Stelle: „wenn es wahr iſt, daß
derjenige komiſche Dichter, welcher ſeinen Perſonen ſo eigene Phyſiog-
nomieen geben wollte, daß ihnen nur ein einziges Individuum in der Welt
ähnlich wäre, die Komödie, wie Diderot ſagt, wiederum in ihre Kindheit
zurückſetzen und in Satyre verkehren würde: ſo iſt es auch ebenſo wahr,
daß derjenige tragiſche Dichter, welcher nur den und den Menſchen, nur
den Cäſar, nur den Cato, nach allen den Eigenthümlichkeiten, die wir von
ihnen wiſſen, vorſtellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie alle dieſe
Eigenthümlichkeiten mit dem Charakter des Cäſar und Cato zuſammenge-
hangen, der ihnen mit mehreren gemein ſei, daß, ſage ich, dieſer
die Tragödie entkräften und zur Geſchichte erniedrigen würde“ (a. a. O.
N. 89). Später (in N. 91) ſagt er nach Ariſtoteles, der Tragiker lege
geſchichtlich bekannte Charaktere zu Grunde, nicht um das Gedächtniß deſſen,
was ihnen begegnet iſt, zu erneuern, ſondern um uns mit ſolchen Begeg-
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