Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
in derselben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht 23*
in derſelben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht 23*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0063" n="349"/> in derſelben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht<lb/> zu haben ſcheint.“ Dann fährt er fort, dieſe <hi rendition="#g">Normal-Idee</hi> ſei keineswegs<lb/> das ganze Urbild der Schönheit in dieſer Gattung, ſondern nur die Form,<lb/> welche die unnachläßliche Bedingung aller Schönheit, mithin blos die<lb/><hi rendition="#g">Richtigkeit</hi> in der Darſtellung der Gattung ausmache, ihre Darſtellung<lb/> ſei nur ſchulgerecht, habe nichts Charakteriſtiſches (unter dieſem verſteht<lb/> er die individuelle Eigenheit ſ. unſ. §. 39 und die zu dieſem §. gegebene<lb/> Anm. Kants). Nun meint man, er werde die Beſtimmung des Individuel-<lb/> len in dieſe abſtracte Geſtalt aufzunehmen ſuchen und ſo das eigentliche<lb/> Ideal, die Schönheit, entſtehen laſſen. Statt deſſen vergißt er nun das<lb/> „Charakteriſtiſche“ alsbald wieder ganz und fordert zur Entſtehung des<lb/> Ideals den „ſichtbaren Ausdruck ſittlicher Ideen“! Als ob jene ſogenannte<lb/> Normalidee blos vom plaſtiſchen Kanon gälte und nicht vielmehr überhaupt<lb/> von jeder Art des Daſeins, den Ausdruck ſeines Weſens, im Menſchen alſo<lb/> des Sittlichen, ſo daß er in einem gewiſſen, abſtracten Durchſchnitte genom-<lb/> men wird, miteingeſchloſſen, müßte gebildet werden können. In unſerer<lb/> Entwicklung iſt das innere Leben des Gegenſtands, alſo auch das ſittliche,<lb/> als ergoſſen in die Form im Voraus mit inbegriffen; nicht nur dieß, ſon-<lb/> dern das innere Leben des Objects liegt uns bereits vor als ein durch-<lb/> wärmtes, mit dem in es eingeſtrömten Leben des phantaſiereichen Subjects<lb/> verdoppeltes. Nicht alſo ſittlicher Ausdruck, denn dieſer gehört an ſich<lb/> ſchon zur Sache, fehlt jener ſogenannten Normalidee, ſondern Individualität.<lb/> Daß dieß die Aufgabe ſei, — die Einheit des Allgemeinen und <hi rendition="#g">Indivi-<lb/> duellen</hi> im Schönen zu erklären —, hat auch <hi rendition="#g">Winkelmann</hi> überſehen,<lb/> wenn er kurzweg die Sache bei einem Entweder Oder ſtehen läßt: die<lb/> ſchöne Bildung iſt entweder individuell „auf das Einzelne gerichtet,“ oder<lb/> „ideal, eine Wahl ſchöner Theile aus vielen einzelnen und Verbindung<lb/> in Eins.“ Dann ſetzt er aber im Gefühle der Schiefheit dieſer Beſtimmung<lb/> hinzu: „jedoch mit dieſer Erinnerung, daß etwas idealiſch heißen kann,<lb/> ohne ſchön zu ſein,“ und führt dafür die ägyptiſchen Figuren an, in wel-<lb/> chen weder Muſkeln, noch Nerven, noch Adern angedeutet ſind. (Kunſtgeſch.<lb/> B. 4, Cap. 2, §. 25). So fallen ihm alle Momente des Schönen aus-<lb/> einander, ein Uebelſtand, der uns nicht mehr begegnen kann, nachdem wir<lb/> den ganzen Prozeß der Entſtehung des Schönen von einem individuellen<lb/> Naturſchönen abgeleitet haben. Sollen wir daher die Richtigkeit jener<lb/> Kantiſchen Erklärung aus einer verhüllten Diviſion prüfen, ſo iſt die Ge-<lb/> ſtaltbildung, von welcher dieſelbe gelten ſoll, für uns eine ganz andere.<lb/> Vor Allem nämlich müſſen wir jene ſogenannte Normalidee oder was<lb/> Winkelmann <hi rendition="#g">auch</hi> idealiſch nennt, ganz zur Seite werfen. Der Kanon<lb/> iſt etwas ganz Abſtractes, was wirklich und buchſtäblich gemeſſen werden<lb/> kann, weder eine Idee, noch ein Ideal, ſondern nur eine Vorſtellung,</hi><lb/> <fw place="bottom" type="sig">23*</fw><lb/> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [349/0063]
in derſelben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht
zu haben ſcheint.“ Dann fährt er fort, dieſe Normal-Idee ſei keineswegs
das ganze Urbild der Schönheit in dieſer Gattung, ſondern nur die Form,
welche die unnachläßliche Bedingung aller Schönheit, mithin blos die
Richtigkeit in der Darſtellung der Gattung ausmache, ihre Darſtellung
ſei nur ſchulgerecht, habe nichts Charakteriſtiſches (unter dieſem verſteht
er die individuelle Eigenheit ſ. unſ. §. 39 und die zu dieſem §. gegebene
Anm. Kants). Nun meint man, er werde die Beſtimmung des Individuel-
len in dieſe abſtracte Geſtalt aufzunehmen ſuchen und ſo das eigentliche
Ideal, die Schönheit, entſtehen laſſen. Statt deſſen vergißt er nun das
„Charakteriſtiſche“ alsbald wieder ganz und fordert zur Entſtehung des
Ideals den „ſichtbaren Ausdruck ſittlicher Ideen“! Als ob jene ſogenannte
Normalidee blos vom plaſtiſchen Kanon gälte und nicht vielmehr überhaupt
von jeder Art des Daſeins, den Ausdruck ſeines Weſens, im Menſchen alſo
des Sittlichen, ſo daß er in einem gewiſſen, abſtracten Durchſchnitte genom-
men wird, miteingeſchloſſen, müßte gebildet werden können. In unſerer
Entwicklung iſt das innere Leben des Gegenſtands, alſo auch das ſittliche,
als ergoſſen in die Form im Voraus mit inbegriffen; nicht nur dieß, ſon-
dern das innere Leben des Objects liegt uns bereits vor als ein durch-
wärmtes, mit dem in es eingeſtrömten Leben des phantaſiereichen Subjects
verdoppeltes. Nicht alſo ſittlicher Ausdruck, denn dieſer gehört an ſich
ſchon zur Sache, fehlt jener ſogenannten Normalidee, ſondern Individualität.
Daß dieß die Aufgabe ſei, — die Einheit des Allgemeinen und Indivi-
duellen im Schönen zu erklären —, hat auch Winkelmann überſehen,
wenn er kurzweg die Sache bei einem Entweder Oder ſtehen läßt: die
ſchöne Bildung iſt entweder individuell „auf das Einzelne gerichtet,“ oder
„ideal, eine Wahl ſchöner Theile aus vielen einzelnen und Verbindung
in Eins.“ Dann ſetzt er aber im Gefühle der Schiefheit dieſer Beſtimmung
hinzu: „jedoch mit dieſer Erinnerung, daß etwas idealiſch heißen kann,
ohne ſchön zu ſein,“ und führt dafür die ägyptiſchen Figuren an, in wel-
chen weder Muſkeln, noch Nerven, noch Adern angedeutet ſind. (Kunſtgeſch.
B. 4, Cap. 2, §. 25). So fallen ihm alle Momente des Schönen aus-
einander, ein Uebelſtand, der uns nicht mehr begegnen kann, nachdem wir
den ganzen Prozeß der Entſtehung des Schönen von einem individuellen
Naturſchönen abgeleitet haben. Sollen wir daher die Richtigkeit jener
Kantiſchen Erklärung aus einer verhüllten Diviſion prüfen, ſo iſt die Ge-
ſtaltbildung, von welcher dieſelbe gelten ſoll, für uns eine ganz andere.
Vor Allem nämlich müſſen wir jene ſogenannte Normalidee oder was
Winkelmann auch idealiſch nennt, ganz zur Seite werfen. Der Kanon
iſt etwas ganz Abſtractes, was wirklich und buchſtäblich gemeſſen werden
kann, weder eine Idee, noch ein Ideal, ſondern nur eine Vorſtellung,
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