Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.Schöpfungen sozusagen eine Menge von Abschnitzeln zur Seite fiel, nicht 2. Zuerst geben wir die zu §. 53 schon angedeutete Stelle von Schöpfungen ſozuſagen eine Menge von Abſchnitzeln zur Seite fiel, nicht 2. Zuerſt geben wir die zu §. 53 ſchon angedeutete Stelle von <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <pb facs="#f0062" n="348"/> <hi rendition="#et">Schöpfungen ſozuſagen eine Menge von Abſchnitzeln zur Seite fiel, nicht<lb/> nur von Entwürfen, die er wieder verwarf, ſondern von verwandten Bil-<lb/> dern, die in unbeſtimmter Miſchung das Hauptbild umgaukelten und in<lb/> einem dunkeln Verhältniß der Anziehung und Abſtoßung mit ihm ſpielten;<lb/> daß er dann endlich Ernſt machen und dieſem Spiel einen Abſchluß geben<lb/> mußte. So fühlte Göthe in Betrachtung ſeines Fauſt eine Geiſterſchaar<lb/> von Jugenderinnerungen in ſich auftauchen, aus denen er einſt das Ganze<lb/> ſchuf, deren unbeſtimmterer Schattenzug aber dieſes noch in der Erinne-<lb/> rung ahnungsvoll umſchwebte. Worin nun jener Abſchluß beſtehe, dieß<lb/> iſt das Geheimniß der Phantaſie.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Zuerſt geben wir die zu §. 53 ſchon angedeutete Stelle von<lb/><hi rendition="#g">Kant</hi> (Krit. d. äſth. Urthlskr. §. 17): „Es iſt anzumerken, daß auf eine<lb/> uns ganz unbegreifliche Art die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen<lb/> für Begriffe gelegentlich, ſelbſt von langer Zeit her, zurückrufen, ſondern<lb/> auch das Bild und die Geſtalt des Gegenſtands aus einer unausſprechlichen<lb/> Zahl von Gegenſtänden verſchiedener Arten oder auch einer und derſelben<lb/> Art zu reproduciren, ja auch, wenn das Gemüth es auf Vergleichungen<lb/> anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum<lb/> Bewußtſein, ein Bild gleichſam auf das andere fallen laſſen und durch die<lb/> Congruenz der mehreren derſelben Art ein Mittleres herauszubekommen<lb/> wiſſe, welches allen zum gemeinſchaftlichen Maße dient. Jemand hat tau-<lb/> ſend erwachſene Mannsperſonen geſehen. Will er nun über die vergleichungs-<lb/> weiſe zu ſchätzende Normalgröße urtheilen, ſo läßt (meiner Meinung nach)<lb/> die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tauſend)<lb/> aufeinanderfallen, und, wenn es mir erlaubt iſt, hiebei die Analogie der<lb/> optiſchen Darſtellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meinen ſich<lb/> vereinigen, und innerhalb dem Umriſſe, wo der Platz mit der am ſtärkſten<lb/> aufgetragenen Farbe illuminirt iſt, da wird die <hi rendition="#g">mittlere Größe</hi><lb/> kenntlich, die ſowohl der Höhe als Breite nach von den äußerſten Grenzen<lb/> der größten und kleinſten Staturen gleich weit entfernt iſt; und dieß iſt<lb/> die Statur für einen ſchönen Mann. (Man könnte eben daſſelbe mechaniſch<lb/> herausbekommen, wenn man alle tauſend mäße, ihre Höhen unter ſich und<lb/> Breiten (und Dicken) für ſich zuſammen addirte und die Summe durch<lb/> tauſend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut ebendieß durch einen<lb/> dynamiſchen Effect, der aus der vielfältigen Auffaſſung ſolcher Geſtalten<lb/> auf das Organ des inneren Sinnes entſpringt.) — Dieſe <hi rendition="#g">Normal-Idee</hi><lb/> iſt nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen als <hi rendition="#g">beſtimm-<lb/> ten Regeln</hi> abgeleitet, ſondern nach ihr werden allererſt Regeln der<lb/> Beurtheilung möglich. Sie iſt das zwiſchen allen einzelnen, auf mancher-<lb/> lei Weiſe verſchiedenen, Anſchauungen der Individuen ſchwebende Bild<lb/> für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbild ihren Erzeugungen<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [348/0062]
Schöpfungen ſozuſagen eine Menge von Abſchnitzeln zur Seite fiel, nicht
nur von Entwürfen, die er wieder verwarf, ſondern von verwandten Bil-
dern, die in unbeſtimmter Miſchung das Hauptbild umgaukelten und in
einem dunkeln Verhältniß der Anziehung und Abſtoßung mit ihm ſpielten;
daß er dann endlich Ernſt machen und dieſem Spiel einen Abſchluß geben
mußte. So fühlte Göthe in Betrachtung ſeines Fauſt eine Geiſterſchaar
von Jugenderinnerungen in ſich auftauchen, aus denen er einſt das Ganze
ſchuf, deren unbeſtimmterer Schattenzug aber dieſes noch in der Erinne-
rung ahnungsvoll umſchwebte. Worin nun jener Abſchluß beſtehe, dieß
iſt das Geheimniß der Phantaſie.
2. Zuerſt geben wir die zu §. 53 ſchon angedeutete Stelle von
Kant (Krit. d. äſth. Urthlskr. §. 17): „Es iſt anzumerken, daß auf eine
uns ganz unbegreifliche Art die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen
für Begriffe gelegentlich, ſelbſt von langer Zeit her, zurückrufen, ſondern
auch das Bild und die Geſtalt des Gegenſtands aus einer unausſprechlichen
Zahl von Gegenſtänden verſchiedener Arten oder auch einer und derſelben
Art zu reproduciren, ja auch, wenn das Gemüth es auf Vergleichungen
anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum
Bewußtſein, ein Bild gleichſam auf das andere fallen laſſen und durch die
Congruenz der mehreren derſelben Art ein Mittleres herauszubekommen
wiſſe, welches allen zum gemeinſchaftlichen Maße dient. Jemand hat tau-
ſend erwachſene Mannsperſonen geſehen. Will er nun über die vergleichungs-
weiſe zu ſchätzende Normalgröße urtheilen, ſo läßt (meiner Meinung nach)
die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tauſend)
aufeinanderfallen, und, wenn es mir erlaubt iſt, hiebei die Analogie der
optiſchen Darſtellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meinen ſich
vereinigen, und innerhalb dem Umriſſe, wo der Platz mit der am ſtärkſten
aufgetragenen Farbe illuminirt iſt, da wird die mittlere Größe
kenntlich, die ſowohl der Höhe als Breite nach von den äußerſten Grenzen
der größten und kleinſten Staturen gleich weit entfernt iſt; und dieß iſt
die Statur für einen ſchönen Mann. (Man könnte eben daſſelbe mechaniſch
herausbekommen, wenn man alle tauſend mäße, ihre Höhen unter ſich und
Breiten (und Dicken) für ſich zuſammen addirte und die Summe durch
tauſend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut ebendieß durch einen
dynamiſchen Effect, der aus der vielfältigen Auffaſſung ſolcher Geſtalten
auf das Organ des inneren Sinnes entſpringt.) — Dieſe Normal-Idee
iſt nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen als beſtimm-
ten Regeln abgeleitet, ſondern nach ihr werden allererſt Regeln der
Beurtheilung möglich. Sie iſt das zwiſchen allen einzelnen, auf mancher-
lei Weiſe verſchiedenen, Anſchauungen der Individuen ſchwebende Bild
für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbild ihren Erzeugungen
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