Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
der Besonnenheit sich zusammenfaßt, mit allem Nachdruck festzuhalten,
der Beſonnenheit ſich zuſammenfaßt, mit allem Nachdruck feſtzuhalten, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0070" n="356"/> der Beſonnenheit ſich zuſammenfaßt, mit allem Nachdruck feſtzuhalten,<lb/> ohne in einer Trennung dieſes Moments von dem der Begeiſterung, wo-<lb/> durch es ſich als Abſtraction von ihr iſolirt und in das Philoſophiſche und<lb/> Etiſche hinüberführt, hineinzugerathen. Dort ſollte ſich der Schöpfer in<lb/> ſein Geſchöpf verlieren, hier ſoll er ebenſoſehr über demſelben ſtehen.<lb/> Zuerſt iſt dieſe Beſonnenheit von der gemeinen zu unterſcheiden, mit wel-<lb/> cher auch die philoſophiſche nichts zu thun hat. J. Paul bezeichnet ſie<lb/> (a. a. O. §. 12) kurz und gut als die geſchäftige und ſagt von ihr,<lb/> ſie ſei vielmehr immer außer ſich und nie bei ſich. Wenn nun die höhere<lb/> Beſonnenheit des Dichters ebenſo auch von der philoſophiſchen ſtreng<lb/> geſchieden und ganz Inſtinct bleiben ſoll, ſo iſt dieß aus dem Geſetze zu<lb/> begreifen, daß Unbewußtes und Bewußtes überhaupt in unendlichen<lb/> Stellungen ſich überbauen. So in der Bildungsgeſchichte, was der Ge-<lb/> genwart als die bewußteſte Bildung erſcheint, wird der folgenden Gene-<lb/> ration naiv, ſie ſieht, daß es noch ein Unbewußtes war, ein Inſtinct der<lb/> Geſchichte. Die Beſonnenheit der Phantaſie iſt höchſtes Bewußtſein,<lb/> gehalten gegen die ſinnliche Wahrnehmung, die Anſchauung, die Ein-<lb/> bildungskraft und auf der Willensſeite gegen Trieb und ſinnliche Leiden-<lb/> ſchaft; ſie iſt bewußtlos, gehalten gegen das reine Denken und die ethiſche,<lb/> auf den Begriff des Gegenſtands gegründete That, in ſich aber geht ſie<lb/> ſo ſicher, als das Thier wiſſend ohne zu wiſſen das ſeiner Gattung Gemäße<lb/> thut, raſch, friſch, ohne Zweifel. Gerade das volle Licht der eigentlichen<lb/> Beſonnenheit ſtört ſie, wie den Hamlet, und treffend ſagt J. Paul (a. a. O.):<lb/> „Das Genie iſt in mehr als einem Sinne ein Nachtwandler; in ſeinem hellen<lb/> Traum vermag es mehr, als der Wache, und beſteigt jede Höhe der<lb/> Wirklichkeit im Dunkeln; aber raubt ihm die träumeriſche Welt, ſo ſtürzt<lb/> es in der wirklichen“, und (§. 13): „Ueberhaupt ſieht die Beſonnenheit<lb/> nicht das Sehen und das Spiegeln ſpiegelt ſich nicht.“ — „<hi rendition="#g">Der Inſtinct<lb/> iſt blind, aber nur wie das Ohr blind iſt gegen Licht und<lb/> das Auge taub gegen den Schall</hi>; er bedeutet und enthält ſeinen<lb/> Gegenſtand ebenſo, wie die Wirkung die Urſache.“ Es iſt aber eine<lb/> doppelte Form der Beſonnenheit in der Phantaſie ſelbſt zu unterſcheiden.<lb/> Ihr Bilden im Großen und Ganzen geſchieht mit der Art von Beſonnen-<lb/> heit, welche ein großer, ſtarker Traum-Inſtinct iſt; zugleich aber iſt das<lb/> Bild im Einzelnen anzuordnen, Verhältniß, Aufeinanderfolge der Theile<lb/> zu beſtimmen. Hier kann und muß eigentliches Denken, eigentliches wäh-<lb/> lendes Wollen eintreten, nur daß es den Inſtinct des Ganzen immer zur<lb/> Baſis und zum leitenden Bande behält. Z. B. der Dichter entwirft ein<lb/> Drama: die Handlung, die Perſonen müſſen ihm vom Inſtincte gegeben,<lb/> da darf er ſich der letzten Gründe nicht bewußt ſein, er darf nicht defini-<lb/> ren können; wie dieſe Perſon dieſes Moment der Idee darſtelle u. ſ. w.,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [356/0070]
der Beſonnenheit ſich zuſammenfaßt, mit allem Nachdruck feſtzuhalten,
ohne in einer Trennung dieſes Moments von dem der Begeiſterung, wo-
durch es ſich als Abſtraction von ihr iſolirt und in das Philoſophiſche und
Etiſche hinüberführt, hineinzugerathen. Dort ſollte ſich der Schöpfer in
ſein Geſchöpf verlieren, hier ſoll er ebenſoſehr über demſelben ſtehen.
Zuerſt iſt dieſe Beſonnenheit von der gemeinen zu unterſcheiden, mit wel-
cher auch die philoſophiſche nichts zu thun hat. J. Paul bezeichnet ſie
(a. a. O. §. 12) kurz und gut als die geſchäftige und ſagt von ihr,
ſie ſei vielmehr immer außer ſich und nie bei ſich. Wenn nun die höhere
Beſonnenheit des Dichters ebenſo auch von der philoſophiſchen ſtreng
geſchieden und ganz Inſtinct bleiben ſoll, ſo iſt dieß aus dem Geſetze zu
begreifen, daß Unbewußtes und Bewußtes überhaupt in unendlichen
Stellungen ſich überbauen. So in der Bildungsgeſchichte, was der Ge-
genwart als die bewußteſte Bildung erſcheint, wird der folgenden Gene-
ration naiv, ſie ſieht, daß es noch ein Unbewußtes war, ein Inſtinct der
Geſchichte. Die Beſonnenheit der Phantaſie iſt höchſtes Bewußtſein,
gehalten gegen die ſinnliche Wahrnehmung, die Anſchauung, die Ein-
bildungskraft und auf der Willensſeite gegen Trieb und ſinnliche Leiden-
ſchaft; ſie iſt bewußtlos, gehalten gegen das reine Denken und die ethiſche,
auf den Begriff des Gegenſtands gegründete That, in ſich aber geht ſie
ſo ſicher, als das Thier wiſſend ohne zu wiſſen das ſeiner Gattung Gemäße
thut, raſch, friſch, ohne Zweifel. Gerade das volle Licht der eigentlichen
Beſonnenheit ſtört ſie, wie den Hamlet, und treffend ſagt J. Paul (a. a. O.):
„Das Genie iſt in mehr als einem Sinne ein Nachtwandler; in ſeinem hellen
Traum vermag es mehr, als der Wache, und beſteigt jede Höhe der
Wirklichkeit im Dunkeln; aber raubt ihm die träumeriſche Welt, ſo ſtürzt
es in der wirklichen“, und (§. 13): „Ueberhaupt ſieht die Beſonnenheit
nicht das Sehen und das Spiegeln ſpiegelt ſich nicht.“ — „Der Inſtinct
iſt blind, aber nur wie das Ohr blind iſt gegen Licht und
das Auge taub gegen den Schall; er bedeutet und enthält ſeinen
Gegenſtand ebenſo, wie die Wirkung die Urſache.“ Es iſt aber eine
doppelte Form der Beſonnenheit in der Phantaſie ſelbſt zu unterſcheiden.
Ihr Bilden im Großen und Ganzen geſchieht mit der Art von Beſonnen-
heit, welche ein großer, ſtarker Traum-Inſtinct iſt; zugleich aber iſt das
Bild im Einzelnen anzuordnen, Verhältniß, Aufeinanderfolge der Theile
zu beſtimmen. Hier kann und muß eigentliches Denken, eigentliches wäh-
lendes Wollen eintreten, nur daß es den Inſtinct des Ganzen immer zur
Baſis und zum leitenden Bande behält. Z. B. der Dichter entwirft ein
Drama: die Handlung, die Perſonen müſſen ihm vom Inſtincte gegeben,
da darf er ſich der letzten Gründe nicht bewußt ſein, er darf nicht defini-
ren können; wie dieſe Perſon dieſes Moment der Idee darſtelle u. ſ. w.,
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