Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
er darf nicht wählen müssen, ob er den Charakter im Entscheidungsfalle §. 398. 1 Durch diese Thätigkeit der Phantasie und nur durch sie entsteht die reine 1. "Nur durch sie." Im ersten Theile hieß, was in das Schöne
er darf nicht wählen müſſen, ob er den Charakter im Entſcheidungsfalle §. 398. 1 Durch dieſe Thätigkeit der Phantaſie und nur durch ſie entſteht die reine 1. „Nur durch ſie.“ Im erſten Theile hieß, was in das Schöne <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0071" n="357"/> er darf nicht wählen müſſen, ob er den Charakter im Entſcheidungsfalle<lb/> ſo oder anders handeln laſſen wolle. Allein über die Folge einzelner<lb/> Auftritte, über die Anordnung ihrer kleineren Theile, Wendungen des<lb/> Geſprächs, wo es ſich nicht um ſchlagende Hauptſtellen handelt, und der-<lb/> gleichen, kann er mit deutlicher Reflexion angeſtrengt nachdenken, oft und<lb/> wiederholt reiben und feilen, bis das Detail ſeines innern Bildes ganz<lb/> offen daliegt. Rechenſchaft von den Gründen im Einzelnen, aber nie von<lb/> den letzten im Großen und Ganzen iſt ſein Naturgeſetz; das Kind ſpringt<lb/> wie Minerva in voller Rüſtung aus ſeinem Haupte und iſt doch ein<lb/> Schmerzenskind; das Unmittelbare legt ſich in eine Summe reicher Ver-<lb/> mittlungen, die oft, ja immer ganz mühevoll, aber von dem müheloſen<lb/> Grundbilde getragen ſind und wieder in es zurückfließen. Nicht ganz<lb/> richtig iſt daher Jean Pauls Ausdruck (a. a. O. §. 12): „Nur das<lb/> Ganze wird von der Begeiſterung erzeugt, aber die Theile werden von der Ruhe<lb/> erzogen“, wenn Ruhe gleich Beſonnenheit ſein ſoll; dieſe iſt ſchon in der<lb/> Begeiſterung ſelbſt, die das Ganze erzeugt, ungeſchieden mitenthalten, in<lb/> den Theilen löst ſie ſich nur vorübergehend von ihr ab, ohne aber das<lb/> Band zu zerreißen.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 398.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Durch dieſe Thätigkeit der Phantaſie und <hi rendition="#g">nur</hi> durch ſie entſteht die reine<lb/><note place="left">2</note>Schönheit, welche nun <hi rendition="#g">Ideal</hi> heißt im Sinne des zunächſt innern Bildes, das<lb/> der Geiſt als ſein durch Umbildung eines Naturſchönen frei geſchaffenes Werk<lb/> ſich in vollendeter Objectivität gegenüberſtellt. Es hat vom Naturſchönen<lb/> die ganze ſinnliche Lebendigkeit und die ganze unendlich eigene Bindung der<lb/> ewigen Gattungsformen zur Individualität, vom freien Geiſte die ganze Aus-<lb/> ſcheidung des ſtöreuden Zufalls durch die poſitive Macht der reinen, in den<lb/> Gegenſtand eingedrungenen und ihn in’s Unendliche hebenden Idee. Das<lb/> Ideal iſt die ſubjective Verwirklichung des in §. 14 aufgeſtellten Begriffs des<lb/> Schönen durch die Phantaſie.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. „<hi rendition="#g">Nur</hi> durch ſie.“ Im erſten Theile hieß, was in das Schöne<lb/> aufgehoben iſt, das Gute und Wahre; jetzt heißt das Schöne Phantaſie<lb/> und das Gute und Wahre, das in ſie aufgehoben iſt, Wille und Denken.<lb/> Nur darf man ſich, aller bisherigen Erörterung zufolge, dieß nicht als<lb/> eine Zeitfolge vorſtellen, wie wenn Wollen und Denken vorher getrennt<lb/> wären und nachher in die Phantaſie eingiengen. In Kritiken und Ur-<lb/> theilen allerwärts vernimmt man trübe Verwirrung über dieſen Punkt:<lb/> „Dieſer Dichter hat Phantaſie, aber ſchlechte Geſinnung, wenig Em-<lb/> pfindung, wenig künſtleriſchen Verſtand“ u. ſ. w.: „er iſt ein philoſophiſcher<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [357/0071]
er darf nicht wählen müſſen, ob er den Charakter im Entſcheidungsfalle
ſo oder anders handeln laſſen wolle. Allein über die Folge einzelner
Auftritte, über die Anordnung ihrer kleineren Theile, Wendungen des
Geſprächs, wo es ſich nicht um ſchlagende Hauptſtellen handelt, und der-
gleichen, kann er mit deutlicher Reflexion angeſtrengt nachdenken, oft und
wiederholt reiben und feilen, bis das Detail ſeines innern Bildes ganz
offen daliegt. Rechenſchaft von den Gründen im Einzelnen, aber nie von
den letzten im Großen und Ganzen iſt ſein Naturgeſetz; das Kind ſpringt
wie Minerva in voller Rüſtung aus ſeinem Haupte und iſt doch ein
Schmerzenskind; das Unmittelbare legt ſich in eine Summe reicher Ver-
mittlungen, die oft, ja immer ganz mühevoll, aber von dem müheloſen
Grundbilde getragen ſind und wieder in es zurückfließen. Nicht ganz
richtig iſt daher Jean Pauls Ausdruck (a. a. O. §. 12): „Nur das
Ganze wird von der Begeiſterung erzeugt, aber die Theile werden von der Ruhe
erzogen“, wenn Ruhe gleich Beſonnenheit ſein ſoll; dieſe iſt ſchon in der
Begeiſterung ſelbſt, die das Ganze erzeugt, ungeſchieden mitenthalten, in
den Theilen löst ſie ſich nur vorübergehend von ihr ab, ohne aber das
Band zu zerreißen.
§. 398.
Durch dieſe Thätigkeit der Phantaſie und nur durch ſie entſteht die reine
Schönheit, welche nun Ideal heißt im Sinne des zunächſt innern Bildes, das
der Geiſt als ſein durch Umbildung eines Naturſchönen frei geſchaffenes Werk
ſich in vollendeter Objectivität gegenüberſtellt. Es hat vom Naturſchönen
die ganze ſinnliche Lebendigkeit und die ganze unendlich eigene Bindung der
ewigen Gattungsformen zur Individualität, vom freien Geiſte die ganze Aus-
ſcheidung des ſtöreuden Zufalls durch die poſitive Macht der reinen, in den
Gegenſtand eingedrungenen und ihn in’s Unendliche hebenden Idee. Das
Ideal iſt die ſubjective Verwirklichung des in §. 14 aufgeſtellten Begriffs des
Schönen durch die Phantaſie.
1. „Nur durch ſie.“ Im erſten Theile hieß, was in das Schöne
aufgehoben iſt, das Gute und Wahre; jetzt heißt das Schöne Phantaſie
und das Gute und Wahre, das in ſie aufgehoben iſt, Wille und Denken.
Nur darf man ſich, aller bisherigen Erörterung zufolge, dieß nicht als
eine Zeitfolge vorſtellen, wie wenn Wollen und Denken vorher getrennt
wären und nachher in die Phantaſie eingiengen. In Kritiken und Ur-
theilen allerwärts vernimmt man trübe Verwirrung über dieſen Punkt:
„Dieſer Dichter hat Phantaſie, aber ſchlechte Geſinnung, wenig Em-
pfindung, wenig künſtleriſchen Verſtand“ u. ſ. w.: „er iſt ein philoſophiſcher
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