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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Dichter" und dergl. Das Schöne entsteht nur durch Phantasie, sonst durch
gar nichts; die Phantasie schließt Gefühl, Gesinnung, Verstand, Sinnlichkeit,
Alles ein. Wer schlechte Gesinnung hat, bringt es von der Einbildungs-
kraft gar nicht oder nur in Augenblicken, wo die Gesinnung sich erhebt,
zur Phantasie; ohne Gefühl, ohne Verstand ist keine Phantasie denkbar,
Philosophie ist von ihr rundweg ausgeschlossen, denn sie verzehrt ihre
Naivität. Phantasie ist das spezifische Organ des Schönen. Schiller sagt
von Göthe: alle seine denkenden Kräfte haben auf die Ein-
bildungskraft
(er gebraucht die jetzige Terminologie, welche die Phan-
tasie streng von dieser unterscheidet, noch nicht) als ihre gemeinschaft-
liche Repräsentantinn gleichsam compromittirt
, und Göthe selbst
darf von seiner Natur rühmen, daß sie nach jeder Scheidung wie getrennte
Quecksilberkugeln sich schnell und leicht immer wieder vereinige. Nun
gibt es freilich die verschiedensten Mischungsverhältnisse in der Phantasie
der Einzelnen, von denen wir hier noch nicht reden, aber es sind Mischungs-
verhältnisse der Phantasie, während jene landläufigen verworrenen Re-
flexionen immer noch etwas neben und außer der Phantasie setzen zu
müssen glauben. Weil der Kritiker die Bindung des Allgemeinen und
der Gestalt auflöst, kehrt ihm bei seichter Reflexion immer auf's Neue
die Meinung zurück, die Phantasie selbst habe von jenem aus diese ge-
sucht. "Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen
das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus
jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als
Exempel des Allgemeinen gilt, die letzte aber ist eigentlich die Natur
der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne an's Allgemeine zu den-
ken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt,
erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst
spät." (Göthe, Maximen und Refl. Abtheil. 4, Werke B. 49, S. 96.)
Wer das Allgemeine in Gedankenform ausspricht, ist kein Dichter, und
wer es in's Bild legt, kein Philosoph. Einzelne Wahrheiten, Sentenzen,
Erfahrungssätze, gehören nicht hieher; sie wälzen sich als Stoff mit und
die Träger der Schönheit sind die Personen, die sie aussprechen, die
Sentenzen, die Gedanken aber sind die Exposition dieser Personen und
ihrer gemeinschaftlichen Handlung.

2. Das reife Bild muß fertig, ganz, abgehoben von den umschwe-
benden Bildern dem Geiste in seinem Innern gegenüberstehen: es muß
ihm scheinen, als sehe er es leibhaftig mit dem geistigen Auge. Die Alten
gingen in der Erkärung der Phantasie immer vom rechten Wortbegriffe,
dem eines innern phainesthai aus, einem Erzeugen von eidola. Plato
nennt sie im Philebus einen innern Maler, rographos. Aristoteles verlangt
(Poet. B. 17) vom Dichter vor Allem das pro ommaton tithebthai,

Dichter“ und dergl. Das Schöne entſteht nur durch Phantaſie, ſonſt durch
gar nichts; die Phantaſie ſchließt Gefühl, Geſinnung, Verſtand, Sinnlichkeit,
Alles ein. Wer ſchlechte Geſinnung hat, bringt es von der Einbildungs-
kraft gar nicht oder nur in Augenblicken, wo die Geſinnung ſich erhebt,
zur Phantaſie; ohne Gefühl, ohne Verſtand iſt keine Phantaſie denkbar,
Philoſophie iſt von ihr rundweg ausgeſchloſſen, denn ſie verzehrt ihre
Naivität. Phantaſie iſt das ſpezifiſche Organ des Schönen. Schiller ſagt
von Göthe: alle ſeine denkenden Kräfte haben auf die Ein-
bildungskraft
(er gebraucht die jetzige Terminologie, welche die Phan-
taſie ſtreng von dieſer unterſcheidet, noch nicht) als ihre gemeinſchaft-
liche Repräſentantinn gleichſam compromittirt
, und Göthe ſelbſt
darf von ſeiner Natur rühmen, daß ſie nach jeder Scheidung wie getrennte
Queckſilberkugeln ſich ſchnell und leicht immer wieder vereinige. Nun
gibt es freilich die verſchiedenſten Miſchungsverhältniſſe in der Phantaſie
der Einzelnen, von denen wir hier noch nicht reden, aber es ſind Miſchungs-
verhältniſſe der Phantaſie, während jene landläufigen verworrenen Re-
flexionen immer noch etwas neben und außer der Phantaſie ſetzen zu
müſſen glauben. Weil der Kritiker die Bindung des Allgemeinen und
der Geſtalt auflöst, kehrt ihm bei ſeichter Reflexion immer auf’s Neue
die Meinung zurück, die Phantaſie ſelbſt habe von jenem aus dieſe ge-
ſucht. „Es iſt ein großer Unterſchied, ob der Dichter zum Allgemeinen
das Beſondere ſucht oder im Beſondern das Allgemeine ſchaut. Aus
jener Art entſteht Allegorie, wo das Beſondere nur als Beiſpiel, als
Exempel des Allgemeinen gilt, die letzte aber iſt eigentlich die Natur
der Poeſie; ſie ſpricht ein Beſonderes aus, ohne an’s Allgemeine zu den-
ken oder darauf hinzuweiſen. Wer nun dieſes Beſondere lebendig faßt,
erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erſt
ſpät.“ (Göthe, Maximen und Refl. Abtheil. 4, Werke B. 49, S. 96.)
Wer das Allgemeine in Gedankenform ausſpricht, iſt kein Dichter, und
wer es in’s Bild legt, kein Philoſoph. Einzelne Wahrheiten, Sentenzen,
Erfahrungsſätze, gehören nicht hieher; ſie wälzen ſich als Stoff mit und
die Träger der Schönheit ſind die Perſonen, die ſie ausſprechen, die
Sentenzen, die Gedanken aber ſind die Expoſition dieſer Perſonen und
ihrer gemeinſchaftlichen Handlung.

2. Das reife Bild muß fertig, ganz, abgehoben von den umſchwe-
benden Bildern dem Geiſte in ſeinem Innern gegenüberſtehen: es muß
ihm ſcheinen, als ſehe er es leibhaftig mit dem geiſtigen Auge. Die Alten
gingen in der Erkärung der Phantaſie immer vom rechten Wortbegriffe,
dem eines innern φαίνεσϑαι aus, einem Erzeugen von εἴδωλα. Plato
nennt ſie im Philebus einen innern Maler, ρωγράφος. Ariſtoteles verlangt
(Poet. B. 17) vom Dichter vor Allem das πρὀ ὀμμάτων τίϑεϐϑαι,

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[358/0072] Dichter“ und dergl. Das Schöne entſteht nur durch Phantaſie, ſonſt durch gar nichts; die Phantaſie ſchließt Gefühl, Geſinnung, Verſtand, Sinnlichkeit, Alles ein. Wer ſchlechte Geſinnung hat, bringt es von der Einbildungs- kraft gar nicht oder nur in Augenblicken, wo die Geſinnung ſich erhebt, zur Phantaſie; ohne Gefühl, ohne Verſtand iſt keine Phantaſie denkbar, Philoſophie iſt von ihr rundweg ausgeſchloſſen, denn ſie verzehrt ihre Naivität. Phantaſie iſt das ſpezifiſche Organ des Schönen. Schiller ſagt von Göthe: alle ſeine denkenden Kräfte haben auf die Ein- bildungskraft (er gebraucht die jetzige Terminologie, welche die Phan- taſie ſtreng von dieſer unterſcheidet, noch nicht) als ihre gemeinſchaft- liche Repräſentantinn gleichſam compromittirt, und Göthe ſelbſt darf von ſeiner Natur rühmen, daß ſie nach jeder Scheidung wie getrennte Queckſilberkugeln ſich ſchnell und leicht immer wieder vereinige. Nun gibt es freilich die verſchiedenſten Miſchungsverhältniſſe in der Phantaſie der Einzelnen, von denen wir hier noch nicht reden, aber es ſind Miſchungs- verhältniſſe der Phantaſie, während jene landläufigen verworrenen Re- flexionen immer noch etwas neben und außer der Phantaſie ſetzen zu müſſen glauben. Weil der Kritiker die Bindung des Allgemeinen und der Geſtalt auflöst, kehrt ihm bei ſeichter Reflexion immer auf’s Neue die Meinung zurück, die Phantaſie ſelbſt habe von jenem aus dieſe ge- ſucht. „Es iſt ein großer Unterſchied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Beſondere ſucht oder im Beſondern das Allgemeine ſchaut. Aus jener Art entſteht Allegorie, wo das Beſondere nur als Beiſpiel, als Exempel des Allgemeinen gilt, die letzte aber iſt eigentlich die Natur der Poeſie; ſie ſpricht ein Beſonderes aus, ohne an’s Allgemeine zu den- ken oder darauf hinzuweiſen. Wer nun dieſes Beſondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erſt ſpät.“ (Göthe, Maximen und Refl. Abtheil. 4, Werke B. 49, S. 96.) Wer das Allgemeine in Gedankenform ausſpricht, iſt kein Dichter, und wer es in’s Bild legt, kein Philoſoph. Einzelne Wahrheiten, Sentenzen, Erfahrungsſätze, gehören nicht hieher; ſie wälzen ſich als Stoff mit und die Träger der Schönheit ſind die Perſonen, die ſie ausſprechen, die Sentenzen, die Gedanken aber ſind die Expoſition dieſer Perſonen und ihrer gemeinſchaftlichen Handlung. 2. Das reife Bild muß fertig, ganz, abgehoben von den umſchwe- benden Bildern dem Geiſte in ſeinem Innern gegenüberſtehen: es muß ihm ſcheinen, als ſehe er es leibhaftig mit dem geiſtigen Auge. Die Alten gingen in der Erkärung der Phantaſie immer vom rechten Wortbegriffe, dem eines innern φαίνεσϑαι aus, einem Erzeugen von εἴδωλα. Plato nennt ſie im Philebus einen innern Maler, ρωγράφος. Ariſtoteles verlangt (Poet. B. 17) vom Dichter vor Allem das πρὀ ὀμμάτων τίϑεϐϑαι,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/72>, abgerufen am 23.11.2024.