Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.entsprechenden Ausdruck gibt. Im geschichtlichen Stoffe ist zu unterschei- entſprechenden Ausdruck gibt. Im geſchichtlichen Stoffe iſt zu unterſchei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <pb facs="#f0078" n="364"/> <hi rendition="#et">entſprechenden Ausdruck gibt. Im geſchichtlichen Stoffe iſt zu unterſchei-<lb/> den zuerſt die Grund-Idee oder der ſittliche Lebens-Gehalt, wie ſolcher in<lb/> dem Volke und der Zeit, darin der Stoff ſpielt, gemäß der Art und<lb/> Stufe ihres ganzen Bewußtſeins ausgebildet ſein konnte; ſodann die<lb/> Charaktere, als deren Pathos er auftritt; ferner das Schickſal als Ge-<lb/> ſammtproduct ihrer Handlungen; dann die Culturformen; endlich die um-<lb/> gebende Natur, worin das Ganze vorgeht. Dabei iſt nun zunächſt<lb/> eine große, eine in die Geſchichte weſentlich eingreifende Handlung vor-<lb/> ausgeſetzt; allein der Stoff kann auch dem ſtillern Kreiſe der Familie, des<lb/> Privatlebens angehören, oder es kann an demſelben mehr die Sitte, Ge-<lb/> wohnheit, der Menſch, als Kind der Natur, der Verhältniſſe, der Bedürf-<lb/> niſſe zum Gegenſtand der Phantaſie erhoben ſein, als die freie That.<lb/> Dieſer Unterſchied im Stoffe und ſeiner Auffaſſung wird ſich in ver-<lb/> ſchiedenen Kunſtzweigen niederſchlagen (hiſtoriſches Bild, Genrebild,<lb/> Drama, Roman, Epos), und dabei wird es überall wieder auf die Aus-<lb/> dehnung ankommen, in welcher das Komiſche in einem Kunſtwerke herrſcht.<lb/> Geht man nun die aufgeführten Momente des Stoffes durch, ſo muß<lb/> man dabei immer dieſen ſehr wichtigen Unterſchied mit im Auge behalten;<lb/> denn ſogleich leuchtet ein, daß ganz andere Anſprüche die Bedingungen<lb/> der Zeit, des Volkes und ſeiner Lebensformen da machen, wo der Menſch<lb/> als Kind der Natur, Zeit, Sitte, als da, wo er als Urheber der<lb/> ſtraffen und freien Handlung auftritt. Es kann demnach von einer<lb/> concreten Erörterung dieſer Fragen um ſo weniger hier die Rede ſein,<lb/> da der Grad der Strenge, in welchem das Geſetz der objectiven Treue<lb/> ſich geltend macht, erſt da ſein Licht erhalten kann, wo dieſe verſchiede-<lb/> nen Auffaſſungen ſich in verſchiedenen Kunſtzweigen befeſtigen. Es iſt<lb/> alſo doppelter Grund, das Wenige, was mit Rückſicht auf bekannte De-<lb/> batten hier geſagt werden kann, nur ganz allgemein und unbeſtimmt zu<lb/> zu halten; man kann überhaupt keine Rezepte geben und man kann ins-<lb/> beſondere deßwegen keine geben, weil jede Kunſtſphäre ein anderes braucht.<lb/> Die Grundfrage in dieſer ganzen Angelegenheit iſt aber durch neuere<lb/> Verhandlungen in’s Schiefe gerathen. <hi rendition="#g">Rötſcher</hi> (Kunſt der dramat.<lb/> Dicht. Thl. 3 oder Cyclus dramat. Charaktere Thl. 2: „das Recht der<lb/> Poeſie in der Behandlung geſchichtlichen Stoffes“) widerlegt zuerſt die<lb/> Vorſtellung, als könne irgend die geſchichtliche Wahrheit Probirſtein und<lb/> Maßſtab ſein für die Beurtheilung eines poetiſchen Ganzen; die Geſchichte<lb/> ſei nur das Material, die Phantaſie ſei frei, autonomiſch, ſouverän, habe<lb/> ihre eigenen Geſetze. Hier erläutert er die berühmte Aeußerung des Ari-<lb/> ſtoteles (Poet 9), daß der Geſchichtſchreiber nur das Geſchehene darſtelle,<lb/> der Dichter das, was nach der Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit hätte<lb/> geſchehen können, oder das Nothwendige, daß daher die Dichtkunſt <hi rendition="#g">philo-<lb/></hi></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [364/0078]
entſprechenden Ausdruck gibt. Im geſchichtlichen Stoffe iſt zu unterſchei-
den zuerſt die Grund-Idee oder der ſittliche Lebens-Gehalt, wie ſolcher in
dem Volke und der Zeit, darin der Stoff ſpielt, gemäß der Art und
Stufe ihres ganzen Bewußtſeins ausgebildet ſein konnte; ſodann die
Charaktere, als deren Pathos er auftritt; ferner das Schickſal als Ge-
ſammtproduct ihrer Handlungen; dann die Culturformen; endlich die um-
gebende Natur, worin das Ganze vorgeht. Dabei iſt nun zunächſt
eine große, eine in die Geſchichte weſentlich eingreifende Handlung vor-
ausgeſetzt; allein der Stoff kann auch dem ſtillern Kreiſe der Familie, des
Privatlebens angehören, oder es kann an demſelben mehr die Sitte, Ge-
wohnheit, der Menſch, als Kind der Natur, der Verhältniſſe, der Bedürf-
niſſe zum Gegenſtand der Phantaſie erhoben ſein, als die freie That.
Dieſer Unterſchied im Stoffe und ſeiner Auffaſſung wird ſich in ver-
ſchiedenen Kunſtzweigen niederſchlagen (hiſtoriſches Bild, Genrebild,
Drama, Roman, Epos), und dabei wird es überall wieder auf die Aus-
dehnung ankommen, in welcher das Komiſche in einem Kunſtwerke herrſcht.
Geht man nun die aufgeführten Momente des Stoffes durch, ſo muß
man dabei immer dieſen ſehr wichtigen Unterſchied mit im Auge behalten;
denn ſogleich leuchtet ein, daß ganz andere Anſprüche die Bedingungen
der Zeit, des Volkes und ſeiner Lebensformen da machen, wo der Menſch
als Kind der Natur, Zeit, Sitte, als da, wo er als Urheber der
ſtraffen und freien Handlung auftritt. Es kann demnach von einer
concreten Erörterung dieſer Fragen um ſo weniger hier die Rede ſein,
da der Grad der Strenge, in welchem das Geſetz der objectiven Treue
ſich geltend macht, erſt da ſein Licht erhalten kann, wo dieſe verſchiede-
nen Auffaſſungen ſich in verſchiedenen Kunſtzweigen befeſtigen. Es iſt
alſo doppelter Grund, das Wenige, was mit Rückſicht auf bekannte De-
batten hier geſagt werden kann, nur ganz allgemein und unbeſtimmt zu
zu halten; man kann überhaupt keine Rezepte geben und man kann ins-
beſondere deßwegen keine geben, weil jede Kunſtſphäre ein anderes braucht.
Die Grundfrage in dieſer ganzen Angelegenheit iſt aber durch neuere
Verhandlungen in’s Schiefe gerathen. Rötſcher (Kunſt der dramat.
Dicht. Thl. 3 oder Cyclus dramat. Charaktere Thl. 2: „das Recht der
Poeſie in der Behandlung geſchichtlichen Stoffes“) widerlegt zuerſt die
Vorſtellung, als könne irgend die geſchichtliche Wahrheit Probirſtein und
Maßſtab ſein für die Beurtheilung eines poetiſchen Ganzen; die Geſchichte
ſei nur das Material, die Phantaſie ſei frei, autonomiſch, ſouverän, habe
ihre eigenen Geſetze. Hier erläutert er die berühmte Aeußerung des Ari-
ſtoteles (Poet 9), daß der Geſchichtſchreiber nur das Geſchehene darſtelle,
der Dichter das, was nach der Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit hätte
geſchehen können, oder das Nothwendige, daß daher die Dichtkunſt philo-
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