Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
sophischer und gewichtiger (philobophoteron kai spoudaioteron) sei, 24*
ſophiſcher und gewichtiger (φιλοϐοφώτερον καὶ σπȣδαιότερον) ſei, 24*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><hi rendition="#g"><pb facs="#f0079" n="365"/> ſophiſcher</hi> und <hi rendition="#g">gewichtiger</hi> (φιλοϐοφώτερον καὶ σπȣδαιότερον) ſei,<lb/> als die Geſchichte; daß jene an dieſe ſich nur anſchließe, weil ſie das<lb/> Glaubwürdige bedürfe, die Möglichkeit aber glaubwürdiger ſei, wenn ſie<lb/> bereits wirklich geworden; daß aber der Dichter, auch wenn er wirklich<lb/> Geſchehenes darſtelle, doch um nichts weniger (frei ſchaffender) Dichter<lb/> ſei. Dann führt er bekannte Aeußerungen von Schiller und Göthe an,<lb/> worin dieſe ſehr zuverſichtlich von den wenigen Umſtänden reden, die der<lb/> Dichter mit der Geſchichte zu machen habe. Nachher aber faßt er die<lb/> Geſchichte in ihrer höheren Bedeutung als Manifeſtation des Weltgeiſtes<lb/> auf, ein Standpunkt, den Ariſtoteles, der von einer ganz trockenen Anſicht<lb/> der Geſchichte als bloßer Aufzählung des Geſchehenen ausgeht, nur bei-<lb/> läufig mit der Schlußwendung berührt, es könne Einiges von dem, was<lb/> geſchehen iſt, ſehr wohl von der Art ſein, wie es wahrſcheinlicher oder mög-<lb/> licher Weiſe hätte geſchehen können. Nun ſtelle ſich die Sache anders,<lb/> nun dürfe der Dichter nur ſorgen, daß er nicht hinter der Geſchichte zu-<lb/> rückbleibe, noch mehr, daß er ihr nicht widerſpreche, ſondern den Kern<lb/> ihres Pathos und ihrer Charaktere feſthalte. Dieß gelte insbeſondere von<lb/> den großen Brennpunkten der Geſchichte, wo das Gold des allgemein<lb/> Menſchlichen ſchon feſt geprägt und nur geringer Nachhilfe bedürftig zu<lb/> Tage liege. Aber auch von dieſem Standpunkt ſei es nicht Reſpect vor<lb/> der hiſtoriſchen Wahrheit, ſondern vor der geiſtigen Würde und Bedeutung<lb/> der Stoffe, alſo das eigene Intereſſe des Dichters, was ihn in ein an-<lb/> deres Verhältniß zu der Geſchichte ſtelle. Dieſer Darſtellung macht A.<lb/><hi rendition="#g">Stahr</hi> (Poeſie und Geſchichte. Jahrb. d. Gegw. Febr. 1847) den ge-<lb/> gründeten Vorwurf, daß durch die letztere Wendung der Widerſpruch des<lb/> Schluſſes mit der Behauptung abſoluter Autonomie des Dichters im An-<lb/> fang ſich nicht verhüllen laſſe. Allein Rötſchers Fehler liegt nicht, wie<lb/> Stahr meint, in dieſer Behauptung, ſondern er liegt gerade darin,<lb/> daß er glaubt, ſie da wieder aufgeben zu müſſen, wo er die Ge-<lb/> ſchichte in ihrer höheren Bedeutung, als Offenbarung des göttlichen Gei-<lb/> ſtes, faßt. Auch bei der erhöhten Anſicht von der Geſchichte als einem<lb/> Drama des Weltgeiſtes darf man nicht, wie Stahr, vergeſſen, daß der<lb/> Weltgeiſt keine dramatiſche Abſicht hat, daß daher ſeinem Werke noch alle<lb/> Schlacken des Naturſchönen anhängen: der Dichter bleibt daher ſchöpferiſch<lb/> auch dem großartigſten Stoffe gegenüber, er iſt niemals der dienende In-<lb/> terpret der Geſchichte. Allerdings iſt aber auch dieß wieder einſeitig, das<lb/> Recht des Dichters als eine abſolute Autonomie zu behaupten. Das<lb/> Wahre liegt gerade in der Mitte zwiſchen den Vorderſätzen Rötſchers und<lb/> zwiſchen Stahrs Ueberſchätzung der Geſchichte in ihrem Verhältniß zum<lb/> Dichter —:</hi> </p><lb/> <fw place="bottom" type="sig">24*</fw><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [365/0079]
ſophiſcher und gewichtiger (φιλοϐοφώτερον καὶ σπȣδαιότερον) ſei,
als die Geſchichte; daß jene an dieſe ſich nur anſchließe, weil ſie das
Glaubwürdige bedürfe, die Möglichkeit aber glaubwürdiger ſei, wenn ſie
bereits wirklich geworden; daß aber der Dichter, auch wenn er wirklich
Geſchehenes darſtelle, doch um nichts weniger (frei ſchaffender) Dichter
ſei. Dann führt er bekannte Aeußerungen von Schiller und Göthe an,
worin dieſe ſehr zuverſichtlich von den wenigen Umſtänden reden, die der
Dichter mit der Geſchichte zu machen habe. Nachher aber faßt er die
Geſchichte in ihrer höheren Bedeutung als Manifeſtation des Weltgeiſtes
auf, ein Standpunkt, den Ariſtoteles, der von einer ganz trockenen Anſicht
der Geſchichte als bloßer Aufzählung des Geſchehenen ausgeht, nur bei-
läufig mit der Schlußwendung berührt, es könne Einiges von dem, was
geſchehen iſt, ſehr wohl von der Art ſein, wie es wahrſcheinlicher oder mög-
licher Weiſe hätte geſchehen können. Nun ſtelle ſich die Sache anders,
nun dürfe der Dichter nur ſorgen, daß er nicht hinter der Geſchichte zu-
rückbleibe, noch mehr, daß er ihr nicht widerſpreche, ſondern den Kern
ihres Pathos und ihrer Charaktere feſthalte. Dieß gelte insbeſondere von
den großen Brennpunkten der Geſchichte, wo das Gold des allgemein
Menſchlichen ſchon feſt geprägt und nur geringer Nachhilfe bedürftig zu
Tage liege. Aber auch von dieſem Standpunkt ſei es nicht Reſpect vor
der hiſtoriſchen Wahrheit, ſondern vor der geiſtigen Würde und Bedeutung
der Stoffe, alſo das eigene Intereſſe des Dichters, was ihn in ein an-
deres Verhältniß zu der Geſchichte ſtelle. Dieſer Darſtellung macht A.
Stahr (Poeſie und Geſchichte. Jahrb. d. Gegw. Febr. 1847) den ge-
gründeten Vorwurf, daß durch die letztere Wendung der Widerſpruch des
Schluſſes mit der Behauptung abſoluter Autonomie des Dichters im An-
fang ſich nicht verhüllen laſſe. Allein Rötſchers Fehler liegt nicht, wie
Stahr meint, in dieſer Behauptung, ſondern er liegt gerade darin,
daß er glaubt, ſie da wieder aufgeben zu müſſen, wo er die Ge-
ſchichte in ihrer höheren Bedeutung, als Offenbarung des göttlichen Gei-
ſtes, faßt. Auch bei der erhöhten Anſicht von der Geſchichte als einem
Drama des Weltgeiſtes darf man nicht, wie Stahr, vergeſſen, daß der
Weltgeiſt keine dramatiſche Abſicht hat, daß daher ſeinem Werke noch alle
Schlacken des Naturſchönen anhängen: der Dichter bleibt daher ſchöpferiſch
auch dem großartigſten Stoffe gegenüber, er iſt niemals der dienende In-
terpret der Geſchichte. Allerdings iſt aber auch dieß wieder einſeitig, das
Recht des Dichters als eine abſolute Autonomie zu behaupten. Das
Wahre liegt gerade in der Mitte zwiſchen den Vorderſätzen Rötſchers und
zwiſchen Stahrs Ueberſchätzung der Geſchichte in ihrem Verhältniß zum
Dichter —:
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