Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
eine Bewußtheit des Effects, was wenigstens den Charakter der alten Zeit
eine Bewußtheit des Effects, was wenigſtens den Charakter der alten Zeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0083" n="369"/> eine Bewußtheit des Effects, was wenigſtens den Charakter der alten Zeit<lb/> und naturwüchſiger Bildung überall aufhebt. Wenn der §. ſagt, es genüge,<lb/> den Typus einzuhalten, ſo iſt damit gemeint, es müſſe das in den Formen<lb/> einer Zeit, eines Standes, Volks, was ihre Gefühlsweiſe, Stimmung,<lb/> Bildungsſtufe weſentlich ausdrückt, feſtgehalten werden, und dieß reicht<lb/> hin. Wer z. B. aus der erſten Hälfte des ſiebenzehnten Jahrhunderts<lb/> einen Stoff nähme und wäre unbekannt mit dem leidenſchaftlichen, wilden,<lb/> in Kleidern weitſchweifigen, gebauſchten, betroddelten, geſchlitzten, bebänder-<lb/> ten Weſen deſſelben, der würde einen Grundfehler begehen, ob er aber<lb/> um ein paar Jahre und Moden fehlt, hat natürlich Nichts zu ſagen.<lb/> Wer den ſchroffen Geiſt altbürgerlicher Sitte in einer Handwerkerfamilie<lb/> zum Stoffe nimmt und ihr Gewohnheiten, Kleider raffinirter und win-<lb/> diger Art beilegt, hat am Weſen des Stoffes ſich vergriffen. Es kann<lb/> in dieſem Gebiete die Kunſt nach Umſtänden auch einigen gelehrten Appa-<lb/> rat bei dem Zuſchauer vorausſetzen, ſo gut ſie eine hiſtoriſche Notiz vor-<lb/> ausſetzt oder mitgiebt, was der Forderung, daß das Kunſtwerk ſich ganz<lb/> aus ſich ſelbſt erklären ſoll, gar nicht widerſpricht; Göthe hat aber im<lb/> Fauſt etwas zu viel Zauberweſens, auch unverſtändliche Zeitbeziehun-<lb/> gen eingewoben (ſchon dem erſten Theil, der zweite exiſtirt für uns gar nicht).<lb/> Etwas ganz Anderes iſt es natürlich mit Kunſtwerken aus alter Zeit,<lb/> welche deßwegen einen Apparat der Erklärung fordern, weil die Zeit-<lb/> formen des Künſtlers ſelbſt verſchwunden, Object der Gelehrſamkeit ge-<lb/> worden ſind. Unter die Culturformen gehört namentlich Bewaffnung<lb/> und Koſtüm und eben an dieſen läßt ſich am beſten zeigen, wie weit die<lb/> Treue gehen muß. Die Schießwaffen z. B. in eine Zeit zurückverſetzen,<lb/> wo die individuelle Tapferkeit in der unmittelbarſten Bethätigung körper-<lb/> licher Kraft und Behendigkeit noch Charakter des Kriegs iſt, oder umge-<lb/> kehrt, wäre lächerlich; allein einige Jahre um die Neige des Mittelalters<lb/> hin oder her ſchadet nichts, die neue Erfindung wurde ſo ſchnell nicht<lb/> durchgeführt, ritterliche Waffen und Büchſen gingen lange nebeneinander.<lb/> Ueber das Koſtüm in beſonderer Anwendung auf das Theater ſagte ſchon<lb/> Tieck in ſeinen dramatiſchen Blättern beherzigenswerthe Worte, Rötſcher<lb/> (die Kunſt der dram. Darſtellung S. 362 ff.) hat dem rechten Grundſatze<lb/> ſeine Stelle im Ganzen angewieſen. Auf dem Theater zeigt ſich recht,<lb/> daß gelehrter Kleiderpomp den wahren Körper des Schönen erdrückt, der<lb/> ſich in einer allgemeinen Beobachtung des Typus einer Zeit leicht und<lb/> bequem bewegt. Allerdings iſt aber eine, nur nicht allzuängſtliche, Ein-<lb/> haltung des Koſtüms auch eine Probe für die Objectivät des Kunſtwerks.<lb/> Seit z. B. der Wallenſtein im richtigen Koſtüm des dreißigjährigen<lb/> Kriegs aufgeführt wird, fühlt man recht, wo der Dichter dieſe geſtiefelte<lb/> Zeit richtig angeſchaut, wo er dagegen zu viel Philoſophie und Senti-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [369/0083]
eine Bewußtheit des Effects, was wenigſtens den Charakter der alten Zeit
und naturwüchſiger Bildung überall aufhebt. Wenn der §. ſagt, es genüge,
den Typus einzuhalten, ſo iſt damit gemeint, es müſſe das in den Formen
einer Zeit, eines Standes, Volks, was ihre Gefühlsweiſe, Stimmung,
Bildungsſtufe weſentlich ausdrückt, feſtgehalten werden, und dieß reicht
hin. Wer z. B. aus der erſten Hälfte des ſiebenzehnten Jahrhunderts
einen Stoff nähme und wäre unbekannt mit dem leidenſchaftlichen, wilden,
in Kleidern weitſchweifigen, gebauſchten, betroddelten, geſchlitzten, bebänder-
ten Weſen deſſelben, der würde einen Grundfehler begehen, ob er aber
um ein paar Jahre und Moden fehlt, hat natürlich Nichts zu ſagen.
Wer den ſchroffen Geiſt altbürgerlicher Sitte in einer Handwerkerfamilie
zum Stoffe nimmt und ihr Gewohnheiten, Kleider raffinirter und win-
diger Art beilegt, hat am Weſen des Stoffes ſich vergriffen. Es kann
in dieſem Gebiete die Kunſt nach Umſtänden auch einigen gelehrten Appa-
rat bei dem Zuſchauer vorausſetzen, ſo gut ſie eine hiſtoriſche Notiz vor-
ausſetzt oder mitgiebt, was der Forderung, daß das Kunſtwerk ſich ganz
aus ſich ſelbſt erklären ſoll, gar nicht widerſpricht; Göthe hat aber im
Fauſt etwas zu viel Zauberweſens, auch unverſtändliche Zeitbeziehun-
gen eingewoben (ſchon dem erſten Theil, der zweite exiſtirt für uns gar nicht).
Etwas ganz Anderes iſt es natürlich mit Kunſtwerken aus alter Zeit,
welche deßwegen einen Apparat der Erklärung fordern, weil die Zeit-
formen des Künſtlers ſelbſt verſchwunden, Object der Gelehrſamkeit ge-
worden ſind. Unter die Culturformen gehört namentlich Bewaffnung
und Koſtüm und eben an dieſen läßt ſich am beſten zeigen, wie weit die
Treue gehen muß. Die Schießwaffen z. B. in eine Zeit zurückverſetzen,
wo die individuelle Tapferkeit in der unmittelbarſten Bethätigung körper-
licher Kraft und Behendigkeit noch Charakter des Kriegs iſt, oder umge-
kehrt, wäre lächerlich; allein einige Jahre um die Neige des Mittelalters
hin oder her ſchadet nichts, die neue Erfindung wurde ſo ſchnell nicht
durchgeführt, ritterliche Waffen und Büchſen gingen lange nebeneinander.
Ueber das Koſtüm in beſonderer Anwendung auf das Theater ſagte ſchon
Tieck in ſeinen dramatiſchen Blättern beherzigenswerthe Worte, Rötſcher
(die Kunſt der dram. Darſtellung S. 362 ff.) hat dem rechten Grundſatze
ſeine Stelle im Ganzen angewieſen. Auf dem Theater zeigt ſich recht,
daß gelehrter Kleiderpomp den wahren Körper des Schönen erdrückt, der
ſich in einer allgemeinen Beobachtung des Typus einer Zeit leicht und
bequem bewegt. Allerdings iſt aber eine, nur nicht allzuängſtliche, Ein-
haltung des Koſtüms auch eine Probe für die Objectivät des Kunſtwerks.
Seit z. B. der Wallenſtein im richtigen Koſtüm des dreißigjährigen
Kriegs aufgeführt wird, fühlt man recht, wo der Dichter dieſe geſtiefelte
Zeit richtig angeſchaut, wo er dagegen zu viel Philoſophie und Senti-
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