Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Sogleich ist klar, daß die landschaftliche Phantasie sich bald mit der einfach
schönen, bald mit der erhabenen verbinden wird; die letztere wird Hoch-
gebirge, Einöden, Stürme der stillen Milde des Naturlebens vorziehen,
in der weicheren Form Mondschein-Scenen u. s. w. In der Thierwelt
findet der Freund des Erhabenen genug des Gewaltigen und Furchtbaren,
der des einfach Schönen genug der friedlichen und behaglichen Stoffe. In
der Sphäre des allgemein Menschlichen bietet sich der Phantasie der schönen Ge-
stalt, wenn sie sich im Erhabenen bewegt, genug des Gewaltigen, Tragischen
(Herkules, borghesischer, sterbender Fechter u. dgl.), der für Volkszustände und
Culturformen organisirten vorzüglich der Krieg neben der gefährlicheren Jagd
als Stoff dar. Diejenige Phantasie, welche in den durchgearbeiteteren
Zuständen der Gesellschaft heimisch ist, hat in der Ehe, Familie, den
Collisionen der Stände, dem Bildungsgang des Individuums ein reiches
Feld für einfach schöne Situation und, wenn sie erhaben oder komisch gestimmt
ist, für Kämpfe und Widersprüche aller Art; auch das schöne Naturleben
des Menschen bietet sich der Komik so gut, wie der einfach schönen und erhabe-
nen Phantasie, nur überall wesentlich der naiven Komik als Fundgrube an.
Daß aber das geschichtliche Gebiet der erhabenen und komischen Phantasie
die reichsten Stoffe liefert, bedarf keines weiteren Beweises; vielmehr hier
eben ist das Feld, wo beide Formen der Weltanschauung sich zu selbst-
ständigen großen Standpunkten (und daher Kunstgattungen) gestalten.
Man meine nicht, die komische Phantasie sei bloß auf das Privatleben
angewiesen, das wir, wie gesagt, im gegenwärtigen Zusammenhang vom
Politischen zu den besonderen Formen zurückstellen; die Geschichte im
Großen ist wahrer Stoff für den großen Komiker (vergl. §. 222).

Auch dieses Feld der Combinationen erschöpft aber noch nicht den
ganzen Umfang der möglichen Verbindungen. Wir haben die einzelnen
Arten der Phantasie zusammengestellt, welche aus den Reichen des natur-
schönen Stoffes als Eintheilungsgrund entstehen, wir haben ihre verschie-
denen Verbindungen untereinander angedeutet. Dann haben wir die
Eintheilung des vorhergehenden §., die den Grundformen des Schönen folgt,
zur jetzigen geschlagen und so wiederum eine Linie neuer Mischungen auf-
gezeigt. Nun entsteht aber eine weitere, wenn man die einzelnen Arten
oder Unterarten dieses §. sammt der schon dazugeschlagenen Weise ihrer
Verbindung mit den Arten oder Unterarten des vorhergehenden §. darauf
ansieht, wie sie sich gestalten, wenn sie sich mit dieser Stimmung auf
den Boden einer andern Art oder Unterart begeben. Wer z. B. dem
einfach Schönen nachgeht und so unter den Stoffen der besonderen mensch-
lichen Formwelt vorzüglich für naive Volkssitte Sinn hat, der wird, wenn
er in das geschichtliche Gebiet übergeht, Volksscenen besser darstellen, als
Helden, wie Göthe im Egmont; ebenderselbe liebt unter den allgemeinen

Sogleich iſt klar, daß die landſchaftliche Phantaſie ſich bald mit der einfach
ſchönen, bald mit der erhabenen verbinden wird; die letztere wird Hoch-
gebirge, Einöden, Stürme der ſtillen Milde des Naturlebens vorziehen,
in der weicheren Form Mondſchein-Scenen u. ſ. w. In der Thierwelt
findet der Freund des Erhabenen genug des Gewaltigen und Furchtbaren,
der des einfach Schönen genug der friedlichen und behaglichen Stoffe. In
der Sphäre des allgemein Menſchlichen bietet ſich der Phantaſie der ſchönen Ge-
ſtalt, wenn ſie ſich im Erhabenen bewegt, genug des Gewaltigen, Tragiſchen
(Herkules, borgheſiſcher, ſterbender Fechter u. dgl.), der für Volkszuſtände und
Culturformen organiſirten vorzüglich der Krieg neben der gefährlicheren Jagd
als Stoff dar. Diejenige Phantaſie, welche in den durchgearbeiteteren
Zuſtänden der Geſellſchaft heimiſch iſt, hat in der Ehe, Familie, den
Colliſionen der Stände, dem Bildungsgang des Individuums ein reiches
Feld für einfach ſchöne Situation und, wenn ſie erhaben oder komiſch geſtimmt
iſt, für Kämpfe und Widerſprüche aller Art; auch das ſchöne Naturleben
des Menſchen bietet ſich der Komik ſo gut, wie der einfach ſchönen und erhabe-
nen Phantaſie, nur überall weſentlich der naiven Komik als Fundgrube an.
Daß aber das geſchichtliche Gebiet der erhabenen und komiſchen Phantaſie
die reichſten Stoffe liefert, bedarf keines weiteren Beweiſes; vielmehr hier
eben iſt das Feld, wo beide Formen der Weltanſchauung ſich zu ſelbſt-
ſtändigen großen Standpunkten (und daher Kunſtgattungen) geſtalten.
Man meine nicht, die komiſche Phantaſie ſei bloß auf das Privatleben
angewieſen, das wir, wie geſagt, im gegenwärtigen Zuſammenhang vom
Politiſchen zu den beſonderen Formen zurückſtellen; die Geſchichte im
Großen iſt wahrer Stoff für den großen Komiker (vergl. §. 222).

Auch dieſes Feld der Combinationen erſchöpft aber noch nicht den
ganzen Umfang der möglichen Verbindungen. Wir haben die einzelnen
Arten der Phantaſie zuſammengeſtellt, welche aus den Reichen des natur-
ſchönen Stoffes als Eintheilungsgrund entſtehen, wir haben ihre verſchie-
denen Verbindungen untereinander angedeutet. Dann haben wir die
Eintheilung des vorhergehenden §., die den Grundformen des Schönen folgt,
zur jetzigen geſchlagen und ſo wiederum eine Linie neuer Miſchungen auf-
gezeigt. Nun entſteht aber eine weitere, wenn man die einzelnen Arten
oder Unterarten dieſes §. ſammt der ſchon dazugeſchlagenen Weiſe ihrer
Verbindung mit den Arten oder Unterarten des vorhergehenden §. darauf
anſieht, wie ſie ſich geſtalten, wenn ſie ſich mit dieſer Stimmung auf
den Boden einer andern Art oder Unterart begeben. Wer z. B. dem
einfach Schönen nachgeht und ſo unter den Stoffen der beſonderen menſch-
lichen Formwelt vorzüglich für naive Volksſitte Sinn hat, der wird, wenn
er in das geſchichtliche Gebiet übergeht, Volksſcenen beſſer darſtellen, als
Helden, wie Göthe im Egmont; ebenderſelbe liebt unter den allgemeinen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0091" n="377"/>
Sogleich i&#x017F;t klar, daß die land&#x017F;chaftliche Phanta&#x017F;ie &#x017F;ich bald mit der einfach<lb/>
&#x017F;chönen, bald mit der erhabenen verbinden wird; die letztere wird Hoch-<lb/>
gebirge, Einöden, Stürme der &#x017F;tillen Milde des Naturlebens vorziehen,<lb/>
in der weicheren Form Mond&#x017F;chein-Scenen u. &#x017F;. w. In der Thierwelt<lb/>
findet der Freund des Erhabenen genug des Gewaltigen und Furchtbaren,<lb/>
der des einfach Schönen genug der friedlichen und behaglichen Stoffe. In<lb/>
der Sphäre des allgemein Men&#x017F;chlichen bietet &#x017F;ich der Phanta&#x017F;ie der &#x017F;chönen Ge-<lb/>
&#x017F;talt, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich im Erhabenen bewegt, genug des Gewaltigen, Tragi&#x017F;chen<lb/>
(Herkules, borghe&#x017F;i&#x017F;cher, &#x017F;terbender Fechter u. dgl.), der für Volkszu&#x017F;tände und<lb/>
Culturformen organi&#x017F;irten vorzüglich der Krieg neben der gefährlicheren Jagd<lb/>
als Stoff dar. Diejenige Phanta&#x017F;ie, welche in den durchgearbeiteteren<lb/>
Zu&#x017F;tänden der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft heimi&#x017F;ch i&#x017F;t, hat in der Ehe, Familie, den<lb/>
Colli&#x017F;ionen der Stände, dem Bildungsgang des Individuums ein reiches<lb/>
Feld für einfach &#x017F;chöne Situation und, wenn &#x017F;ie erhaben oder komi&#x017F;ch ge&#x017F;timmt<lb/>
i&#x017F;t, für Kämpfe und Wider&#x017F;prüche aller Art; auch das &#x017F;chöne Naturleben<lb/>
des Men&#x017F;chen bietet &#x017F;ich der Komik &#x017F;o gut, wie der einfach &#x017F;chönen und erhabe-<lb/>
nen Phanta&#x017F;ie, nur überall we&#x017F;entlich der naiven Komik als Fundgrube an.<lb/>
Daß aber das ge&#x017F;chichtliche Gebiet der erhabenen und komi&#x017F;chen Phanta&#x017F;ie<lb/>
die reich&#x017F;ten Stoffe liefert, bedarf keines weiteren Bewei&#x017F;es; vielmehr hier<lb/>
eben i&#x017F;t das Feld, wo beide Formen der Weltan&#x017F;chauung &#x017F;ich zu &#x017F;elb&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;tändigen großen Standpunkten (und daher Kun&#x017F;tgattungen) ge&#x017F;talten.<lb/>
Man meine nicht, die komi&#x017F;che Phanta&#x017F;ie &#x017F;ei bloß auf das Privatleben<lb/>
angewie&#x017F;en, das wir, wie ge&#x017F;agt, im gegenwärtigen Zu&#x017F;ammenhang vom<lb/>
Politi&#x017F;chen zu den be&#x017F;onderen Formen zurück&#x017F;tellen; die Ge&#x017F;chichte im<lb/>
Großen i&#x017F;t wahrer Stoff für den großen Komiker (vergl. §. 222).</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Auch die&#x017F;es Feld der Combinationen er&#x017F;chöpft aber noch nicht den<lb/>
ganzen Umfang der möglichen Verbindungen. Wir haben die einzelnen<lb/>
Arten der Phanta&#x017F;ie zu&#x017F;ammenge&#x017F;tellt, welche aus den Reichen des natur-<lb/>
&#x017F;chönen Stoffes als Eintheilungsgrund ent&#x017F;tehen, wir haben ihre ver&#x017F;chie-<lb/>
denen Verbindungen untereinander angedeutet. Dann haben wir die<lb/>
Eintheilung des vorhergehenden §., die den Grundformen des Schönen folgt,<lb/>
zur jetzigen ge&#x017F;chlagen und &#x017F;o wiederum eine Linie neuer Mi&#x017F;chungen auf-<lb/>
gezeigt. Nun ent&#x017F;teht aber eine weitere, wenn man die einzelnen Arten<lb/>
oder Unterarten die&#x017F;es §. <hi rendition="#g">&#x017F;ammt</hi> der &#x017F;chon dazuge&#x017F;chlagenen Wei&#x017F;e ihrer<lb/>
Verbindung mit den Arten oder Unterarten des vorhergehenden §. darauf<lb/>
an&#x017F;ieht, wie &#x017F;ie &#x017F;ich ge&#x017F;talten, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich mit die&#x017F;er Stimmung auf<lb/>
den Boden einer andern Art oder Unterart begeben. Wer z. B. dem<lb/>
einfach Schönen nachgeht und &#x017F;o unter den Stoffen der be&#x017F;onderen men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Formwelt vorzüglich für naive Volks&#x017F;itte Sinn hat, der wird, wenn<lb/>
er in das ge&#x017F;chichtliche Gebiet übergeht, Volks&#x017F;cenen be&#x017F;&#x017F;er dar&#x017F;tellen, als<lb/>
Helden, wie Göthe im Egmont; ebender&#x017F;elbe liebt unter den allgemeinen<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[377/0091] Sogleich iſt klar, daß die landſchaftliche Phantaſie ſich bald mit der einfach ſchönen, bald mit der erhabenen verbinden wird; die letztere wird Hoch- gebirge, Einöden, Stürme der ſtillen Milde des Naturlebens vorziehen, in der weicheren Form Mondſchein-Scenen u. ſ. w. In der Thierwelt findet der Freund des Erhabenen genug des Gewaltigen und Furchtbaren, der des einfach Schönen genug der friedlichen und behaglichen Stoffe. In der Sphäre des allgemein Menſchlichen bietet ſich der Phantaſie der ſchönen Ge- ſtalt, wenn ſie ſich im Erhabenen bewegt, genug des Gewaltigen, Tragiſchen (Herkules, borgheſiſcher, ſterbender Fechter u. dgl.), der für Volkszuſtände und Culturformen organiſirten vorzüglich der Krieg neben der gefährlicheren Jagd als Stoff dar. Diejenige Phantaſie, welche in den durchgearbeiteteren Zuſtänden der Geſellſchaft heimiſch iſt, hat in der Ehe, Familie, den Colliſionen der Stände, dem Bildungsgang des Individuums ein reiches Feld für einfach ſchöne Situation und, wenn ſie erhaben oder komiſch geſtimmt iſt, für Kämpfe und Widerſprüche aller Art; auch das ſchöne Naturleben des Menſchen bietet ſich der Komik ſo gut, wie der einfach ſchönen und erhabe- nen Phantaſie, nur überall weſentlich der naiven Komik als Fundgrube an. Daß aber das geſchichtliche Gebiet der erhabenen und komiſchen Phantaſie die reichſten Stoffe liefert, bedarf keines weiteren Beweiſes; vielmehr hier eben iſt das Feld, wo beide Formen der Weltanſchauung ſich zu ſelbſt- ſtändigen großen Standpunkten (und daher Kunſtgattungen) geſtalten. Man meine nicht, die komiſche Phantaſie ſei bloß auf das Privatleben angewieſen, das wir, wie geſagt, im gegenwärtigen Zuſammenhang vom Politiſchen zu den beſonderen Formen zurückſtellen; die Geſchichte im Großen iſt wahrer Stoff für den großen Komiker (vergl. §. 222). Auch dieſes Feld der Combinationen erſchöpft aber noch nicht den ganzen Umfang der möglichen Verbindungen. Wir haben die einzelnen Arten der Phantaſie zuſammengeſtellt, welche aus den Reichen des natur- ſchönen Stoffes als Eintheilungsgrund entſtehen, wir haben ihre verſchie- denen Verbindungen untereinander angedeutet. Dann haben wir die Eintheilung des vorhergehenden §., die den Grundformen des Schönen folgt, zur jetzigen geſchlagen und ſo wiederum eine Linie neuer Miſchungen auf- gezeigt. Nun entſteht aber eine weitere, wenn man die einzelnen Arten oder Unterarten dieſes §. ſammt der ſchon dazugeſchlagenen Weiſe ihrer Verbindung mit den Arten oder Unterarten des vorhergehenden §. darauf anſieht, wie ſie ſich geſtalten, wenn ſie ſich mit dieſer Stimmung auf den Boden einer andern Art oder Unterart begeben. Wer z. B. dem einfach Schönen nachgeht und ſo unter den Stoffen der beſonderen menſch- lichen Formwelt vorzüglich für naive Volksſitte Sinn hat, der wird, wenn er in das geſchichtliche Gebiet übergeht, Volksſcenen beſſer darſtellen, als Helden, wie Göthe im Egmont; ebenderſelbe liebt unter den allgemeinen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/91
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/91>, abgerufen am 23.11.2024.