1. Nur in denjenigen Gebieten kann es eine naive Kunst geben, wo das Material oder das Vehikel (diesen Unterschied wird die Lehre von der Poesie aufhellen) unmittelbar in den eigenen Organen der Phantasie- erfüllten Seele liegt, also in der Musik und Poesie (auch dem Tanz); diese Unterscheidung muß aus der Kunstlehre vorausgenommen werden, die naive Kunst ist aber eine so wesentliche, in der Lehre von der Technik bedeutende Erscheinung, daß sie trotz ihrer Beschränkung auf besondere Kunstgebiete schon hier einzuführen ist. Jene zwei Künste vereinigen sich im Volksliede, an welchem die gedrängte Charakteristik der naiven Kunst- form, wie sie der §. gibt, seines Orts zu erläutern ist, so daß hier nur die Hauptzüge hervorgehoben werden können. Zuerst ist ganz im Allge- meinen die Lehre vom Verhältniß der allgemeinen und besondern Phantasie auf dem Puncte, wo wir sie in §. 416 ff. zuletzt stehen gelassen, wieder aufzunehmen. Kann der allgemeinen Phantasie, wie in §. 416 dargethan ist, nicht alle höhere Productivität im Sinne des innern Bildens abgehen, so folgt von selbst, daß sie in irgend einem Maaß auch zur künstlerischen Darstellung fortgehen wird, eben in den Gebieten nämlich, wo dieß mit einem Minimum von Technik möglich ist, denn begäbe sie sich in die Schule der Technik, so würden wir das Subject der allgemeinen Phantasie selbst, nämlich das volksmäßig naive Gesammtsubject, verlieren. In den bildenden Künsten, da diese ein gegenüberstehendes sprödes Material zu bewältigen haben, kann bei diesem Minimum der Technik von eigentlicher Kunst nicht die Rede sein, sondern was die allgemeine Phantasie von Kunst-Aehnlichem hier leistet, bleibt auf der Stufe des Spieles stehen. Wie nun das innere Phantasiebild der allgemeinen Phantasie das Gesammt- product eines massenhaften Instincts ist (§. 416), so auch ihr Werk: der Sänger ist nur "der Mund der Sage" (Wilh. Grimm) und der einfachsten Grundgefühle des Volksgemüths; ja die Sage und diese einfache Gemüthswelt bildet sich und lebt gerade in und durch diese kunstlose Kunst. In welcher Weise bei diesem Zurücktreten des Einzelnen das Entstehen des Lieds und seiner Melodie zu denken ist, darüber eben ist in der Dar- stellung des Volkslieds erst Auskunft zu geben. Waldfrische ist der Charakter der naiven Kunst, sie gleicht der ungefaßten Quelle im Waldesdunkel, sie blüht und duftet wie die Erdbeere unter den Moosen des Tannendickichts. Sie verhält sich zur Kunstpoesie wie das Naturschöne zur Phantasie: sie ist, wie jenes für diese, Voraussetzung und Stoff für die eigentliche Kunst; von ihrer weiteren wichtigen Bedeutung, daß nämlich eine ausgetrocknete Bildungskunst aus diesem Borne neue Jugend trinkt, zeugt vor Allem der Moment in der deutschen Literatur, als der jugendliche Göthe an Herders Hand zur Naturkraft des Volkslieds und Shakespeares (der zwar Kunstdichter war, aber selbst gegen den eindrin-
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1. Nur in denjenigen Gebieten kann es eine naive Kunſt geben, wo das Material oder das Vehikel (dieſen Unterſchied wird die Lehre von der Poeſie aufhellen) unmittelbar in den eigenen Organen der Phantaſie- erfüllten Seele liegt, alſo in der Muſik und Poeſie (auch dem Tanz); dieſe Unterſcheidung muß aus der Kunſtlehre vorausgenommen werden, die naive Kunſt iſt aber eine ſo weſentliche, in der Lehre von der Technik bedeutende Erſcheinung, daß ſie trotz ihrer Beſchränkung auf beſondere Kunſtgebiete ſchon hier einzuführen iſt. Jene zwei Künſte vereinigen ſich im Volksliede, an welchem die gedrängte Charakteriſtik der naiven Kunſt- form, wie ſie der §. gibt, ſeines Orts zu erläutern iſt, ſo daß hier nur die Hauptzüge hervorgehoben werden können. Zuerſt iſt ganz im Allge- meinen die Lehre vom Verhältniß der allgemeinen und beſondern Phantaſie auf dem Puncte, wo wir ſie in §. 416 ff. zuletzt ſtehen gelaſſen, wieder aufzunehmen. Kann der allgemeinen Phantaſie, wie in §. 416 dargethan iſt, nicht alle höhere Productivität im Sinne des innern Bildens abgehen, ſo folgt von ſelbſt, daß ſie in irgend einem Maaß auch zur künſtleriſchen Darſtellung fortgehen wird, eben in den Gebieten nämlich, wo dieß mit einem Minimum von Technik möglich iſt, denn begäbe ſie ſich in die Schule der Technik, ſo würden wir das Subject der allgemeinen Phantaſie ſelbſt, nämlich das volksmäßig naive Geſammtſubject, verlieren. In den bildenden Künſten, da dieſe ein gegenüberſtehendes ſprödes Material zu bewältigen haben, kann bei dieſem Minimum der Technik von eigentlicher Kunſt nicht die Rede ſein, ſondern was die allgemeine Phantaſie von Kunſt-Aehnlichem hier leiſtet, bleibt auf der Stufe des Spieles ſtehen. Wie nun das innere Phantaſiebild der allgemeinen Phantaſie das Geſammt- product eines maſſenhaften Inſtincts iſt (§. 416), ſo auch ihr Werk: der Sänger iſt nur „der Mund der Sage“ (Wilh. Grimm) und der einfachſten Grundgefühle des Volksgemüths; ja die Sage und dieſe einfache Gemüthswelt bildet ſich und lebt gerade in und durch dieſe kunſtloſe Kunſt. In welcher Weiſe bei dieſem Zurücktreten des Einzelnen das Entſtehen des Lieds und ſeiner Melodie zu denken iſt, darüber eben iſt in der Dar- ſtellung des Volkslieds erſt Auskunft zu geben. Waldfriſche iſt der Charakter der naiven Kunſt, ſie gleicht der ungefaßten Quelle im Waldesdunkel, ſie blüht und duftet wie die Erdbeere unter den Mooſen des Tannendickichts. Sie verhält ſich zur Kunſtpoeſie wie das Naturſchöne zur Phantaſie: ſie iſt, wie jenes für dieſe, Vorausſetzung und Stoff für die eigentliche Kunſt; von ihrer weiteren wichtigen Bedeutung, daß nämlich eine ausgetrocknete Bildungskunſt aus dieſem Borne neue Jugend trinkt, zeugt vor Allem der Moment in der deutſchen Literatur, als der jugendliche Göthe an Herders Hand zur Naturkraft des Volkslieds und Shakespeares (der zwar Kunſtdichter war, aber ſelbſt gegen den eindrin-
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1. Nur in denjenigen Gebieten kann es eine naive Kunſt geben, wo
das Material oder das Vehikel (dieſen Unterſchied wird die Lehre von
der Poeſie aufhellen) unmittelbar in den eigenen Organen der Phantaſie-
erfüllten Seele liegt, alſo in der Muſik und Poeſie (auch dem Tanz); dieſe
Unterſcheidung muß aus der Kunſtlehre vorausgenommen werden, die
naive Kunſt iſt aber eine ſo weſentliche, in der Lehre von der Technik
bedeutende Erſcheinung, daß ſie trotz ihrer Beſchränkung auf beſondere
Kunſtgebiete ſchon hier einzuführen iſt. Jene zwei Künſte vereinigen ſich
im Volksliede, an welchem die gedrängte Charakteriſtik der naiven Kunſt-
form, wie ſie der §. gibt, ſeines Orts zu erläutern iſt, ſo daß hier nur
die Hauptzüge hervorgehoben werden können. Zuerſt iſt ganz im Allge-
meinen die Lehre vom Verhältniß der allgemeinen und beſondern Phantaſie
auf dem Puncte, wo wir ſie in §. 416 ff. zuletzt ſtehen gelaſſen, wieder
aufzunehmen. Kann der allgemeinen Phantaſie, wie in §. 416 dargethan
iſt, nicht alle höhere Productivität im Sinne des innern Bildens abgehen,
ſo folgt von ſelbſt, daß ſie in irgend einem Maaß auch zur künſtleriſchen
Darſtellung fortgehen wird, eben in den Gebieten nämlich, wo dieß mit
einem Minimum von Technik möglich iſt, denn begäbe ſie ſich in die
Schule der Technik, ſo würden wir das Subject der allgemeinen Phantaſie
ſelbſt, nämlich das volksmäßig naive Geſammtſubject, verlieren. In den
bildenden Künſten, da dieſe ein gegenüberſtehendes ſprödes Material zu
bewältigen haben, kann bei dieſem Minimum der Technik von eigentlicher
Kunſt nicht die Rede ſein, ſondern was die allgemeine Phantaſie von
Kunſt-Aehnlichem hier leiſtet, bleibt auf der Stufe des Spieles ſtehen.
Wie nun das innere Phantaſiebild der allgemeinen Phantaſie das Geſammt-
product eines maſſenhaften Inſtincts iſt (§. 416), ſo auch ihr Werk: der
Sänger iſt nur „der Mund der Sage“ (Wilh. Grimm) und der einfachſten
Grundgefühle des Volksgemüths; ja die Sage und dieſe einfache
Gemüthswelt bildet ſich und lebt gerade in und durch dieſe kunſtloſe Kunſt.
In welcher Weiſe bei dieſem Zurücktreten des Einzelnen das Entſtehen
des Lieds und ſeiner Melodie zu denken iſt, darüber eben iſt in der Dar-
ſtellung des Volkslieds erſt Auskunft zu geben. Waldfriſche iſt der Charakter
der naiven Kunſt, ſie gleicht der ungefaßten Quelle im Waldesdunkel, ſie
blüht und duftet wie die Erdbeere unter den Mooſen des Tannendickichts.
Sie verhält ſich zur Kunſtpoeſie wie das Naturſchöne zur
Phantaſie: ſie iſt, wie jenes für dieſe, Vorausſetzung und Stoff
für die eigentliche Kunſt; von ihrer weiteren wichtigen Bedeutung, daß
nämlich eine ausgetrocknete Bildungskunſt aus dieſem Borne neue Jugend
trinkt, zeugt vor Allem der Moment in der deutſchen Literatur, als der
jugendliche Göthe an Herders Hand zur Naturkraft des Volkslieds und
Shakespeares (der zwar Kunſtdichter war, aber ſelbſt gegen den eindrin-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/111>, abgerufen am 16.02.2025.
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