Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
stoß gegen den guten, von dem er als höher Begabter ein Gefühl hätte
ſtoß gegen den guten, von dem er als höher Begabter ein Gefühl hätte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0139" n="127"/> ſtoß gegen den guten, von dem er als höher Begabter ein Gefühl hätte<lb/> haben ſollen, aber ein um ſeiner übrigen Größe willen verzeihlicher. Man<lb/> hüte ſich jedoch wohl, die kühnen Blitze in den Stellen, wo das Pathos<lb/> ſeine höhere Sprache ſpricht und worin er mit der höchſten poetiſchen<lb/> Abſicht die phantaſieloſen Begriffe von Ordnung und Maaß vor den Kopf<lb/> ſtößt, zu den Sünden gegen den guten Geſchmack zu rechnen, wie z. B.<lb/> die furchtbar herrlichen Worte Macbeths: „und Mitleid, wie ein neu-<lb/> gebornes Kind, auf Sturmwind reitend“ u. ſ. w. So ſind die Worte in<lb/> Göthes herrlichem Liede der Mignon: „es brennt mein Eingeweide“ nicht<lb/> ein Verſtoß gegen den Geſchmack, ſondern hoch über allem bloßen Ge-<lb/> ſchmack mit ſeinen Begriffen von Schicklichkeit. Selbſt im Lohenſteiniſchen<lb/> Schwulſt ſind Perlen wirklich großen Styls, welche nur die Gottſchediſche<lb/> Dictatur, die alle Poeſie unter den Stab des Geſchmacks ſtellen wollte,<lb/> als geſchmackswidrig verdammen konnte. — Aehnlich verhält es ſich mit<lb/> dem Geſetze der Correctheit. Dieſer Begriff iſt ein rein negativer, d. h.<lb/> er ſtellt Richtigkeitslinien auf, welche nicht verletzt werden ſollen, aber<lb/> welche nicht verletzt zu haben noch entfernt kein äſthetiſches Lob iſt. Es<lb/> war die Zeit der leeren Kunſt, der conventionellen Poeſie (vergl. §. 476),<lb/> welche den Begriff der Correctheit für ein poſitives Prinzip nahm. Die<lb/> höhere Kunſttechnik iſt ein Lebendiges, dem jeder große Genius einen<lb/> neuen Geiſt einhaucht; der Genius iſt autonomiſch. Zieht man daher das<lb/> ganze Gebiet der äſthetiſchen Regel von dem Umkreiſe ab, in welchem<lb/> von einem gegebenen äußern Geſetze die Rede ſein kann, ſo bleibt<lb/> nur die allgemeine Grundlage der gemein-techniſchen Normen und in<lb/> den Künſten, welche direct ihr Vorbild in der Natur haben, das nothwendig<lb/> Regelmäßige in den Gebilden der letzteren. Ein geometriſcher Verſtoß des<lb/> Architekts, eine ungleiche Stellung der Augen, Verletzung einer Proportion<lb/> im Werke des Bildhauers, eine Verzeichnung des Malers, eine ungelöste<lb/> Diſſonanz, falſcher Ton des Muſikers, Ueberſehen einer Unwahrſcheinlichkeit<lb/> und Schnitzer im Versmaaß bei dem Dichter: dieß ſind Fehler, welche<lb/> nicht vorkommen ſollen, aber ſehr leicht vorkommen können als einzelne<lb/> Schwäche ſelbſt des größten Styliſten. Cornelius und Genelli haben Styl<lb/> im beſten Sinne des Worts und doch leiden ihre Werke an theilweiſe<lb/> groben Verzeichnungen. Abſichtliche Unrichtigkeiten, welche von der Be-<lb/> rechnung auf einen gewiſſen Geſichtsſtandpunct herkommen oder gewiſſe<lb/> höhere Wirkungen unmerklich motiviren, ſind etwas ganz Anderes, ſie<lb/> ſind nicht Fehler, ſondern abſichtliche Mittel. Die Griechen haben bekanntlich<lb/> hierin ganz frei gehandelt, auch Raphael bietet belehrende Beiſpiele. Wenn<lb/> man übrigens dem Meiſter wirkliche Incorrectheiten nachſieht, ſo darf dieß<lb/> natürlich nicht ſo verſtanden werden, als ob dem Schüler ein Freibrief für<lb/> Nachläßigkeit gegeben werden ſolle; die Genieſucht, welche im Incorrecten<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [127/0139]
ſtoß gegen den guten, von dem er als höher Begabter ein Gefühl hätte
haben ſollen, aber ein um ſeiner übrigen Größe willen verzeihlicher. Man
hüte ſich jedoch wohl, die kühnen Blitze in den Stellen, wo das Pathos
ſeine höhere Sprache ſpricht und worin er mit der höchſten poetiſchen
Abſicht die phantaſieloſen Begriffe von Ordnung und Maaß vor den Kopf
ſtößt, zu den Sünden gegen den guten Geſchmack zu rechnen, wie z. B.
die furchtbar herrlichen Worte Macbeths: „und Mitleid, wie ein neu-
gebornes Kind, auf Sturmwind reitend“ u. ſ. w. So ſind die Worte in
Göthes herrlichem Liede der Mignon: „es brennt mein Eingeweide“ nicht
ein Verſtoß gegen den Geſchmack, ſondern hoch über allem bloßen Ge-
ſchmack mit ſeinen Begriffen von Schicklichkeit. Selbſt im Lohenſteiniſchen
Schwulſt ſind Perlen wirklich großen Styls, welche nur die Gottſchediſche
Dictatur, die alle Poeſie unter den Stab des Geſchmacks ſtellen wollte,
als geſchmackswidrig verdammen konnte. — Aehnlich verhält es ſich mit
dem Geſetze der Correctheit. Dieſer Begriff iſt ein rein negativer, d. h.
er ſtellt Richtigkeitslinien auf, welche nicht verletzt werden ſollen, aber
welche nicht verletzt zu haben noch entfernt kein äſthetiſches Lob iſt. Es
war die Zeit der leeren Kunſt, der conventionellen Poeſie (vergl. §. 476),
welche den Begriff der Correctheit für ein poſitives Prinzip nahm. Die
höhere Kunſttechnik iſt ein Lebendiges, dem jeder große Genius einen
neuen Geiſt einhaucht; der Genius iſt autonomiſch. Zieht man daher das
ganze Gebiet der äſthetiſchen Regel von dem Umkreiſe ab, in welchem
von einem gegebenen äußern Geſetze die Rede ſein kann, ſo bleibt
nur die allgemeine Grundlage der gemein-techniſchen Normen und in
den Künſten, welche direct ihr Vorbild in der Natur haben, das nothwendig
Regelmäßige in den Gebilden der letzteren. Ein geometriſcher Verſtoß des
Architekts, eine ungleiche Stellung der Augen, Verletzung einer Proportion
im Werke des Bildhauers, eine Verzeichnung des Malers, eine ungelöste
Diſſonanz, falſcher Ton des Muſikers, Ueberſehen einer Unwahrſcheinlichkeit
und Schnitzer im Versmaaß bei dem Dichter: dieß ſind Fehler, welche
nicht vorkommen ſollen, aber ſehr leicht vorkommen können als einzelne
Schwäche ſelbſt des größten Styliſten. Cornelius und Genelli haben Styl
im beſten Sinne des Worts und doch leiden ihre Werke an theilweiſe
groben Verzeichnungen. Abſichtliche Unrichtigkeiten, welche von der Be-
rechnung auf einen gewiſſen Geſichtsſtandpunct herkommen oder gewiſſe
höhere Wirkungen unmerklich motiviren, ſind etwas ganz Anderes, ſie
ſind nicht Fehler, ſondern abſichtliche Mittel. Die Griechen haben bekanntlich
hierin ganz frei gehandelt, auch Raphael bietet belehrende Beiſpiele. Wenn
man übrigens dem Meiſter wirkliche Incorrectheiten nachſieht, ſo darf dieß
natürlich nicht ſo verſtanden werden, als ob dem Schüler ein Freibrief für
Nachläßigkeit gegeben werden ſolle; die Genieſucht, welche im Incorrecten
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