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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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die höhere Freiheit der Phantasie sucht, ist um wenig besser, als der ent-
gegengesetzte Formalismus der Meistersänger-Tabulatur und der Gottsche-
dianer, welche die Kunst, untadeliche Verse zu machen, für Poesie hielten.

2. Daß es Manier am Style gibt, daß dieselbe da hervortritt,
wo ein Meister des Styls Stoffe ergreift, die sich gegen seine Auffassungs-
weise sträuben, wurde zum vorh. §. schon berührt. M. Angelo's Bei-
spiel, das dort angeführt worden, ist besonders belehrend. Auch Rubens
wird manierirt, wenn er seinen saftigvollen, leidenschaftlich energischen
Styl auf Stoffe überträgt, welche ruhige sanfte Schönheit fordern.
Rottmann wurde manierirt, wenn er den Licht-Effecten stärker nachgieng,
als dieß mit seiner plastischen Auffassungsweise vereinbar war. Göthe
wird manierirt, wenn er seine menschlich schöne Auffassungsweise auf
schlechthin drastische Stoffe überträgt, Schiller, wenn er mitten in große
Handlungen und zwischen starke Stellen seinen sentimentalen Ton ein-
schiebt; auch sonst fühlt man, wie von der Zeit an, da er seinen Styl
gefunden und es ihm leicht aus der Hand geht, stellenweise das fertige
Machen der Manier bei ihm eintritt, so namentlich in der Jungfrau von
Orleans. Ob man die erste Stufe in der Entwicklung des Genius, wo
er wie eine Naturgewalt hervorbricht (§. 411), als Manier oder als
Styl zu bezeichnen habe, kann zweifelhaft scheinen. Das Große in
Göthes und Schillers ungestümmer Jugenddichtung weist auf den wer-
denden Styl hin, das Muthwillige daran ist sehr subjectiv und, sofern
es als angewöhnter Ton erscheint, als Manier zu bezeichnen, das Unreife
und Rohe fällt unter keinen dieser beiden Begriffe. Wie aber die Kraft
gewachsen ist, so nimmt sie auch ab, und diese Abnahme wird es aller-
dings mit sich bringen, daß eines großen Künstlers ganze Technik in
Manier versinkt. Was von dem Hervortreten derselben bei Göthe und
Schiller so eben erwähnt ist, gehört zum Theil schon hieher. Der
Künstler copirt nun sich selbst; seine großen Formen überleben den Geist,
der sie geschaffen, und verlieren ihre objective Macht und Wahrheit auch
da, wo der Gegenstand der Auffassungsweise an sich entspricht, erscheinen
daher als bloß gemacht. Der Verlust der objectiven Gewalt wird aber
allerdings auch mit einer, dem zunehmenden Alter eignen, Neigung zu-
sammenfallen, solche Stoffe zu ergreifen, an welchen, weil sie der Auffassung
nicht zusagen, schon bei noch voller Kraft der Styl zur Manier geworden
wäre. So sah Göthe wohl ein, daß sein Faust im zweiten Theile in
das höhere, handelnde, politische Leben geführt werden müsse, aber er
mochte fühlen, daß dieß nicht sein Boden sei, und wagte sich nicht an die
Fortsetzung; im hohen Alter aber that er es und wurde manierirt im höchsten
Grade. Auch schon in seiner natürlichen Tochter ergreift er einen Stoff,
der am Krater einer Revolution spielt, und was sonst Schönheit der

die höhere Freiheit der Phantaſie ſucht, iſt um wenig beſſer, als der ent-
gegengeſetzte Formalismus der Meiſterſänger-Tabulatur und der Gottſche-
dianer, welche die Kunſt, untadeliche Verſe zu machen, für Poeſie hielten.

2. Daß es Manier am Style gibt, daß dieſelbe da hervortritt,
wo ein Meiſter des Styls Stoffe ergreift, die ſich gegen ſeine Auffaſſungs-
weiſe ſträuben, wurde zum vorh. §. ſchon berührt. M. Angelo’s Bei-
ſpiel, das dort angeführt worden, iſt beſonders belehrend. Auch Rubens
wird manierirt, wenn er ſeinen ſaftigvollen, leidenſchaftlich energiſchen
Styl auf Stoffe überträgt, welche ruhige ſanfte Schönheit fordern.
Rottmann wurde manierirt, wenn er den Licht-Effecten ſtärker nachgieng,
als dieß mit ſeiner plaſtiſchen Auffaſſungsweiſe vereinbar war. Göthe
wird manierirt, wenn er ſeine menſchlich ſchöne Auffaſſungsweiſe auf
ſchlechthin draſtiſche Stoffe überträgt, Schiller, wenn er mitten in große
Handlungen und zwiſchen ſtarke Stellen ſeinen ſentimentalen Ton ein-
ſchiebt; auch ſonſt fühlt man, wie von der Zeit an, da er ſeinen Styl
gefunden und es ihm leicht aus der Hand geht, ſtellenweiſe das fertige
Machen der Manier bei ihm eintritt, ſo namentlich in der Jungfrau von
Orleans. Ob man die erſte Stufe in der Entwicklung des Genius, wo
er wie eine Naturgewalt hervorbricht (§. 411), als Manier oder als
Styl zu bezeichnen habe, kann zweifelhaft ſcheinen. Das Große in
Göthes und Schillers ungeſtümmer Jugenddichtung weist auf den wer-
denden Styl hin, das Muthwillige daran iſt ſehr ſubjectiv und, ſofern
es als angewöhnter Ton erſcheint, als Manier zu bezeichnen, das Unreife
und Rohe fällt unter keinen dieſer beiden Begriffe. Wie aber die Kraft
gewachſen iſt, ſo nimmt ſie auch ab, und dieſe Abnahme wird es aller-
dings mit ſich bringen, daß eines großen Künſtlers ganze Technik in
Manier verſinkt. Was von dem Hervortreten derſelben bei Göthe und
Schiller ſo eben erwähnt iſt, gehört zum Theil ſchon hieher. Der
Künſtler copirt nun ſich ſelbſt; ſeine großen Formen überleben den Geiſt,
der ſie geſchaffen, und verlieren ihre objective Macht und Wahrheit auch
da, wo der Gegenſtand der Auffaſſungsweiſe an ſich entſpricht, erſcheinen
daher als bloß gemacht. Der Verluſt der objectiven Gewalt wird aber
allerdings auch mit einer, dem zunehmenden Alter eignen, Neigung zu-
ſammenfallen, ſolche Stoffe zu ergreifen, an welchen, weil ſie der Auffaſſung
nicht zuſagen, ſchon bei noch voller Kraft der Styl zur Manier geworden
wäre. So ſah Göthe wohl ein, daß ſein Fauſt im zweiten Theile in
das höhere, handelnde, politiſche Leben geführt werden müſſe, aber er
mochte fühlen, daß dieß nicht ſein Boden ſei, und wagte ſich nicht an die
Fortſetzung; im hohen Alter aber that er es und wurde manierirt im höchſten
Grade. Auch ſchon in ſeiner natürlichen Tochter ergreift er einen Stoff,
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[128/0140] die höhere Freiheit der Phantaſie ſucht, iſt um wenig beſſer, als der ent- gegengeſetzte Formalismus der Meiſterſänger-Tabulatur und der Gottſche- dianer, welche die Kunſt, untadeliche Verſe zu machen, für Poeſie hielten. 2. Daß es Manier am Style gibt, daß dieſelbe da hervortritt, wo ein Meiſter des Styls Stoffe ergreift, die ſich gegen ſeine Auffaſſungs- weiſe ſträuben, wurde zum vorh. §. ſchon berührt. M. Angelo’s Bei- ſpiel, das dort angeführt worden, iſt beſonders belehrend. Auch Rubens wird manierirt, wenn er ſeinen ſaftigvollen, leidenſchaftlich energiſchen Styl auf Stoffe überträgt, welche ruhige ſanfte Schönheit fordern. Rottmann wurde manierirt, wenn er den Licht-Effecten ſtärker nachgieng, als dieß mit ſeiner plaſtiſchen Auffaſſungsweiſe vereinbar war. Göthe wird manierirt, wenn er ſeine menſchlich ſchöne Auffaſſungsweiſe auf ſchlechthin draſtiſche Stoffe überträgt, Schiller, wenn er mitten in große Handlungen und zwiſchen ſtarke Stellen ſeinen ſentimentalen Ton ein- ſchiebt; auch ſonſt fühlt man, wie von der Zeit an, da er ſeinen Styl gefunden und es ihm leicht aus der Hand geht, ſtellenweiſe das fertige Machen der Manier bei ihm eintritt, ſo namentlich in der Jungfrau von Orleans. Ob man die erſte Stufe in der Entwicklung des Genius, wo er wie eine Naturgewalt hervorbricht (§. 411), als Manier oder als Styl zu bezeichnen habe, kann zweifelhaft ſcheinen. Das Große in Göthes und Schillers ungeſtümmer Jugenddichtung weist auf den wer- denden Styl hin, das Muthwillige daran iſt ſehr ſubjectiv und, ſofern es als angewöhnter Ton erſcheint, als Manier zu bezeichnen, das Unreife und Rohe fällt unter keinen dieſer beiden Begriffe. Wie aber die Kraft gewachſen iſt, ſo nimmt ſie auch ab, und dieſe Abnahme wird es aller- dings mit ſich bringen, daß eines großen Künſtlers ganze Technik in Manier verſinkt. Was von dem Hervortreten derſelben bei Göthe und Schiller ſo eben erwähnt iſt, gehört zum Theil ſchon hieher. Der Künſtler copirt nun ſich ſelbſt; ſeine großen Formen überleben den Geiſt, der ſie geſchaffen, und verlieren ihre objective Macht und Wahrheit auch da, wo der Gegenſtand der Auffaſſungsweiſe an ſich entſpricht, erſcheinen daher als bloß gemacht. Der Verluſt der objectiven Gewalt wird aber allerdings auch mit einer, dem zunehmenden Alter eignen, Neigung zu- ſammenfallen, ſolche Stoffe zu ergreifen, an welchen, weil ſie der Auffaſſung nicht zuſagen, ſchon bei noch voller Kraft der Styl zur Manier geworden wäre. So ſah Göthe wohl ein, daß ſein Fauſt im zweiten Theile in das höhere, handelnde, politiſche Leben geführt werden müſſe, aber er mochte fühlen, daß dieß nicht ſein Boden ſei, und wagte ſich nicht an die Fortſetzung; im hohen Alter aber that er es und wurde manierirt im höchſten Grade. Auch ſchon in ſeiner natürlichen Tochter ergreift er einen Stoff, der am Krater einer Revolution ſpielt, und was ſonſt Schönheit der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/140>, abgerufen am 21.11.2024.