Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
deutschen Poesie spricht man von örtlichen Schulen, so lange der Genius 9*
deutſchen Poeſie ſpricht man von örtlichen Schulen, ſo lange der Genius 9*
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deutſchen Poeſie ſpricht man von örtlichen Schulen, ſo lange der Genius
die auseinanderlaufenden Richtungen nicht in einen höchſten Brennpunct
geſammelt hat; ſchon hier iſt übrigens die bezeichnende Unterſcheidung
durch den ſporadiſchen Charakter der Fortpflanzung ſchwierig: die Rich-
tung auf das Erhabene ſcheint vorzüglich dem nördlichen Volksſtamme
zu entſprechen, aber ſchon vor Klopſtock ſchlägt Haller, ein Schweizer,
dieſen Ton an und Klopſtock ſelbſt (allerdings ganz ein Norddeutſcher)
findet wieder vorzüglich in der Schweiz Nachahmer; die ſogenannte
anakreontiſche Dichtung ſollte man in ihrem Urſprunge für ſüddeutſch
halten, ſie faßt ſich aber in Wielands Geiſt zu einer umfaſſenderen
Wirkung erſt zuſammen, nachdem ſie von dem Dichterkreiſe in Halle aus
mehr nach dem Norden, ja bis Hamburg (Hagedorn) getragen war;
noch beſtimmter aber tritt nun das Provinzielle bei den großen claſſiſchen
Dichtern in den Hintergrund: ſie geben vom Süden aus, aber Niemand
wird Göthes Styl den fränkiſchen, Schillers den ſchwäbiſchen nennen, ſie
leiſten ihr Höchſtes in dem künſtlichen Mittelpuncte einer kleinen ſächſiſchen
Reſidenz und ihre Wirkungen zünden ohne einen beſtimmten Faden in
allen Gegenden Deutſchlands. Eben hieran knürft ſich aber die richtige
Anſchauung dieſer Verhältniſſe: ſolange man die Schulen vorherrſchend
als örtliche und provinzielle zu bezeichnen hat, ſind ſie auch nur Ausdruck
eines Stamm- und Provinzialgeiſtes, die höchſte Entwicklung aber iſt
Ausdruck des Nationalgeiſtes in einer beſtimmten Epoche. M. Angelo’s
und Raphaels Styl iſt der vollendete italieniſche, Göthes und Schillers
der vollendete deutſche Styl, und dieſe Style verbreiten ſich, weil ſie dieß
ſind. Somit geht die Betrachtung aus dem Pragmatiſchen heraus und
erklärt die Verbreitung der Schulen und ihrer Style aus einer Empfäng-
lichkeit, welche von dem Gefühle geleitet iſt, ein urſprünglich Verwandtes,
das derſelben Quelle, demſelben Volks- und Zeitgeiſte entſtiegen iſt, zu
finden und zu ergreifen, und wir kommen zu dem Satze in §. 423 zu-
rück, daß im begabten Individuum die Geſammtkräfte eines Volks und
Zeitalters ſich zuſammenfaſſen, einem Satze, der ſich aber jetzt zu der
concreten Anſchauung eines in beſtimmten Formen Niedergelegten,
geſchichtlich Vermittelten entwickelt hat. Uebrigens werden durch die
Ausbildung eines höchſten nationalen Styls die bedeutenderen Gegenſätze
der Provinzen, Stämme allerdings nicht völlig aufgehoben, nur die Ein-
ſeitigkeit verſchwindet, in der ſich früher der Localgeiſt geltend gemacht
hatte, die Hauptgegenſätze des Styls haben gleichen Antheil an der
erreichten relativen Vollkommenheit. So ſpaltet ſich in Griechenland auch
der ideale Styl in den attiſchen der reinen, hohen Schönheit (Phidias)
und den argiviſch-ſikyoniſchen Styl der athletiſchen Kraft (Polyllet, ähnlich
der Eleutherer Myron); ſo erhält ſich in Italien der Gegenſatz der
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