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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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nur in Beziehung auf zwei Künste redet, ist übrigens eine weitere unbe-
gründete Verengung des Styl-Begriffs. Wenn dagegen wir diesen
Begriff hier in einer neuen Bedeutung aufführen, so kann diese zunächst
keine andre sein, als: die jeder Kunst zukommende Behandlungsweise
des Materials als eine durch ihre nothwendigen Bedingungen festgestellte
gewohnheitsmäßige Uebung; eine Bedeutung, die von der Intensität der
früheren vorerst ganz wieder absieht und darin auch von Rumohrs
Begriffsbestimmung noch verschieden ist, denn diese nimmt das Wort Styl
allerdings in dem intensiven Sinn, worin der Ausdruck ein Lob des
Künstlers enthält (wiewohl sie das Lobenswerthe zu äußerlich deutet, zu
sehr bloß negativ auffaßt); Styl bedeutet uns jetzt zunächst ohne alle
Emphase das Verfahren einer einzelnen Kunst und eines einzelnen Zweigs
derselben: Architekturstyl (Pallaststyl, Kirchenstyl), Styl der Bildhauerei
(Genre-Styl, heroischer Styl u. s. w.), Styl der Malerei (historischer
Styl, Genre-Styl, Landschaftstyl), Musik-Styl (Kirchenstyl, Styl des
Oratoriums, Kammerstyl u. s. w.), Styl der Poesie (epischer, lyrischer,
dramatischer). Wie wir nun oben, als wir vom Innern ausgiengen,
das sich Fügen unter die technischen Bedingungen miteinverstanden, so
ist jetzt, da wir bei dem Aeußern stehen, vorausgesetzt, daß der Einzelne
sich seinen Bedingungen aus innerem Wollen füge. Es liegt darauf,
weil es eben vorausgesetzt ist, zunächst kein Accent; allein man sieht leicht,
daß ein solcher alsbald eintreten muß, denn offenbar redet man von dem
Styl einer Kunst oder eines Kunstzweigs, statt einfach: Baukunst, Kirchen-
baukunst u. s. w. zu sagen, namentlich dann, wenn durch einen Contrast
ein Schlaglicht auf die aus der geistigen Auffassung fließenden technischen
Bedingungen fällt, und dieß geschieht vor Allem, wenn die Auffassungs-
und Verfahrensweise der einen Kunst auf die andere oder des einen
Kunstzweigs auf den andern übergetragen wird. Durch den Schlußsatz
von §. 404 ist auf diese Uebertragung vorbereitet. Nun erhält der Begriff
wieder eine Emphase, enthält Lob oder Tadel. Wann das Eine oder
Andere begründet sei, ist in abstracto nicht auszumachen, dieß gehört in
die spezielle Kunstlehre. Nur einige Beispiele: wie die Aegyptier die
Bildhauerei architektonisch behandeln, ist dieß ein tiefer Mangel, dagegen
gibt es in mehrfachem Sinn eine ganz edle und freie architektonische
Behandlung der menschlichen und thierischen Gestalt, nicht blos in Karya-
tiden und heraldischen Thieren, sondern auch bei höherer Aufgabe. Bernini
hat die Plastik malerisch behandelt im Sinn der übelsten Effecthascherei,
das Mittelalter hat dieß in anderem und historisch berechtigtem Sinne
gethan. In der Malerei kann architektonischer Styl in berechtigter oder
unberechtigter Weise sich geltend machen, ebenso plastischer Styl. Umge-
kehrt kann die Architektur in plastischem oder malerischem Styl behandelt

nur in Beziehung auf zwei Künſte redet, iſt übrigens eine weitere unbe-
gründete Verengung des Styl-Begriffs. Wenn dagegen wir dieſen
Begriff hier in einer neuen Bedeutung aufführen, ſo kann dieſe zunächſt
keine andre ſein, als: die jeder Kunſt zukommende Behandlungsweiſe
des Materials als eine durch ihre nothwendigen Bedingungen feſtgeſtellte
gewohnheitsmäßige Uebung; eine Bedeutung, die von der Intenſität der
früheren vorerſt ganz wieder abſieht und darin auch von Rumohrs
Begriffsbeſtimmung noch verſchieden iſt, denn dieſe nimmt das Wort Styl
allerdings in dem intenſiven Sinn, worin der Ausdruck ein Lob des
Künſtlers enthält (wiewohl ſie das Lobenswerthe zu äußerlich deutet, zu
ſehr bloß negativ auffaßt); Styl bedeutet uns jetzt zunächſt ohne alle
Emphaſe das Verfahren einer einzelnen Kunſt und eines einzelnen Zweigs
derſelben: Architekturſtyl (Pallaſtſtyl, Kirchenſtyl), Styl der Bildhauerei
(Genre-Styl, heroiſcher Styl u. ſ. w.), Styl der Malerei (hiſtoriſcher
Styl, Genre-Styl, Landſchaftſtyl), Muſik-Styl (Kirchenſtyl, Styl des
Oratoriums, Kammerſtyl u. ſ. w.), Styl der Poeſie (epiſcher, lyriſcher,
dramatiſcher). Wie wir nun oben, als wir vom Innern ausgiengen,
das ſich Fügen unter die techniſchen Bedingungen miteinverſtanden, ſo
iſt jetzt, da wir bei dem Aeußern ſtehen, vorausgeſetzt, daß der Einzelne
ſich ſeinen Bedingungen aus innerem Wollen füge. Es liegt darauf,
weil es eben vorausgeſetzt iſt, zunächſt kein Accent; allein man ſieht leicht,
daß ein ſolcher alsbald eintreten muß, denn offenbar redet man von dem
Styl einer Kunſt oder eines Kunſtzweigs, ſtatt einfach: Baukunſt, Kirchen-
baukunſt u. ſ. w. zu ſagen, namentlich dann, wenn durch einen Contraſt
ein Schlaglicht auf die aus der geiſtigen Auffaſſung fließenden techniſchen
Bedingungen fällt, und dieß geſchieht vor Allem, wenn die Auffaſſungs-
und Verfahrensweiſe der einen Kunſt auf die andere oder des einen
Kunſtzweigs auf den andern übergetragen wird. Durch den Schlußſatz
von §. 404 iſt auf dieſe Uebertragung vorbereitet. Nun erhält der Begriff
wieder eine Emphaſe, enthält Lob oder Tadel. Wann das Eine oder
Andere begründet ſei, iſt in abstracto nicht auszumachen, dieß gehört in
die ſpezielle Kunſtlehre. Nur einige Beiſpiele: wie die Aegyptier die
Bildhauerei architektoniſch behandeln, iſt dieß ein tiefer Mangel, dagegen
gibt es in mehrfachem Sinn eine ganz edle und freie architektoniſche
Behandlung der menſchlichen und thieriſchen Geſtalt, nicht blos in Karya-
tiden und heraldiſchen Thieren, ſondern auch bei höherer Aufgabe. Bernini
hat die Plaſtik maleriſch behandelt im Sinn der übelſten Effecthaſcherei,
das Mittelalter hat dieß in anderem und hiſtoriſch berechtigtem Sinne
gethan. In der Malerei kann architektoniſcher Styl in berechtigter oder
unberechtigter Weiſe ſich geltend machen, ebenſo plaſtiſcher Styl. Umge-
kehrt kann die Architektur in plaſtiſchem oder maleriſchem Styl behandelt

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[140/0152] nur in Beziehung auf zwei Künſte redet, iſt übrigens eine weitere unbe- gründete Verengung des Styl-Begriffs. Wenn dagegen wir dieſen Begriff hier in einer neuen Bedeutung aufführen, ſo kann dieſe zunächſt keine andre ſein, als: die jeder Kunſt zukommende Behandlungsweiſe des Materials als eine durch ihre nothwendigen Bedingungen feſtgeſtellte gewohnheitsmäßige Uebung; eine Bedeutung, die von der Intenſität der früheren vorerſt ganz wieder abſieht und darin auch von Rumohrs Begriffsbeſtimmung noch verſchieden iſt, denn dieſe nimmt das Wort Styl allerdings in dem intenſiven Sinn, worin der Ausdruck ein Lob des Künſtlers enthält (wiewohl ſie das Lobenswerthe zu äußerlich deutet, zu ſehr bloß negativ auffaßt); Styl bedeutet uns jetzt zunächſt ohne alle Emphaſe das Verfahren einer einzelnen Kunſt und eines einzelnen Zweigs derſelben: Architekturſtyl (Pallaſtſtyl, Kirchenſtyl), Styl der Bildhauerei (Genre-Styl, heroiſcher Styl u. ſ. w.), Styl der Malerei (hiſtoriſcher Styl, Genre-Styl, Landſchaftſtyl), Muſik-Styl (Kirchenſtyl, Styl des Oratoriums, Kammerſtyl u. ſ. w.), Styl der Poeſie (epiſcher, lyriſcher, dramatiſcher). Wie wir nun oben, als wir vom Innern ausgiengen, das ſich Fügen unter die techniſchen Bedingungen miteinverſtanden, ſo iſt jetzt, da wir bei dem Aeußern ſtehen, vorausgeſetzt, daß der Einzelne ſich ſeinen Bedingungen aus innerem Wollen füge. Es liegt darauf, weil es eben vorausgeſetzt iſt, zunächſt kein Accent; allein man ſieht leicht, daß ein ſolcher alsbald eintreten muß, denn offenbar redet man von dem Styl einer Kunſt oder eines Kunſtzweigs, ſtatt einfach: Baukunſt, Kirchen- baukunſt u. ſ. w. zu ſagen, namentlich dann, wenn durch einen Contraſt ein Schlaglicht auf die aus der geiſtigen Auffaſſung fließenden techniſchen Bedingungen fällt, und dieß geſchieht vor Allem, wenn die Auffaſſungs- und Verfahrensweiſe der einen Kunſt auf die andere oder des einen Kunſtzweigs auf den andern übergetragen wird. Durch den Schlußſatz von §. 404 iſt auf dieſe Uebertragung vorbereitet. Nun erhält der Begriff wieder eine Emphaſe, enthält Lob oder Tadel. Wann das Eine oder Andere begründet ſei, iſt in abstracto nicht auszumachen, dieß gehört in die ſpezielle Kunſtlehre. Nur einige Beiſpiele: wie die Aegyptier die Bildhauerei architektoniſch behandeln, iſt dieß ein tiefer Mangel, dagegen gibt es in mehrfachem Sinn eine ganz edle und freie architektoniſche Behandlung der menſchlichen und thieriſchen Geſtalt, nicht blos in Karya- tiden und heraldiſchen Thieren, ſondern auch bei höherer Aufgabe. Bernini hat die Plaſtik maleriſch behandelt im Sinn der übelſten Effecthaſcherei, das Mittelalter hat dieß in anderem und hiſtoriſch berechtigtem Sinne gethan. In der Malerei kann architektoniſcher Styl in berechtigter oder unberechtigter Weiſe ſich geltend machen, ebenſo plaſtiſcher Styl. Umge- kehrt kann die Architektur in plaſtiſchem oder maleriſchem Styl behandelt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/152>, abgerufen am 22.11.2024.