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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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als in unbewegter und stummer (tableaux vivants, Kellersche Bilder);
vollständig ist sie aber auch dort nicht. Der lebendige Stoff drückt, dieß
also ist unser Hauptsatz, etwas für sich aus, aber etwas Anderes, als
was er in diesem Zusammenhang soll. Dieser fremde Ausdruck ist
aber nicht nur darum störend, weil er nicht in den Zusammenhang gehört,
sondern noch mehr darum, weil er der Ausdruck eines blos Naturschönen
ist. Ist auch ein Naturschönes ausgewählt worden, das, so weit nur
immer möglich ist, dem darzustellenden Bilde entspricht, so ist es doch auch
in den Theilen, worin es entspricht, mit allen Mängeln des Naturschönen
behaftet. Als solches wirkt es aber auch stoffartig (vergl. §. 381, 1.);
bei wirklichen Stücken einer Landschaft, bei lebendigen Thieren, die im
Theater auftreten, ist diese pathologische Beziehung, obwohl vorhanden,
weniger fühlbar, als gegenüber der wirklichen Menschengestalt, namentlich
der weiblichen; die Ausführung der Weiberrollen durch Knaben auf der
antiken und auf der älteren Schaubühne der neueren Zeit war daher
ästhetisch besser begründet, als man gewöhnlich annimmt: das Urtheil des
männlichen Publikums wurde durch kein geschlechtliches Interesse getrübt
(vergl. Ed. Devrient Gesch. d. deutsch. Schauspielerkunst B. 1, S. 259).
-- Wir werden seines Orts die wichtigen Folgerungen aus diesen Sätzen
ziehen; es gründet sich auf sie eine besondere Nebenabtheilung in der
Lehre von den Künsten, in welcher, trotz ihrer übrigens hohen Bedeutung,
auch die Schauspielkunst ihren Ort einzunehmen hat.

§. 491.

An diesem Stoffe muß, damit er zum Träger (§. 490) umgebildet werde,
eine Thätigkeit ausgeübt werden, welche als Vollstrechung des Phantasiebildes
die doppelte Natur hat, daß sie nur die andere, in ihr als Anlage, Ansatz
schon enthaltene Seite der Phantasiethätigkeit, ebensosehr aber ein wesentlich
Neues ist. Denn sie muß den Stoff durch Stoff, also sinnlich bewältigen und
setzt daher ein besonderes Vermögen und eine besondere Uebung voraus, ein
Können: Kunst.

Was die Technik des Künstlers ausführt, ist im innern Bilde schon
mitgesetzt; wir erinnern uns, daß die Phantasie (schon als Einbildungs-
kraft) eine innerlich gesetzte Sinnlichkeit ist (§. 387, 2.); der Baukünstler
baut, der Bildhauer modellirt, der Maler malt, der Musiker componirt
innerlich, ehe er es äußerlich thut, der Dichter führt geistig bewegte Bilder-
züge in seinem Innern vorüber und ihm klingt zugleich der Rhythmus
der Sprache mit an, in dem er sie seinen Hörern mittheilen will. Die
wirkliche Ausführung erscheint nun nur als ein weiterer Schritt derselben

als in unbewegter und ſtummer (tableaux vivants, Kellerſche Bilder);
vollſtändig iſt ſie aber auch dort nicht. Der lebendige Stoff drückt, dieß
alſo iſt unſer Hauptſatz, etwas für ſich aus, aber etwas Anderes, als
was er in dieſem Zuſammenhang ſoll. Dieſer fremde Ausdruck iſt
aber nicht nur darum ſtörend, weil er nicht in den Zuſammenhang gehört,
ſondern noch mehr darum, weil er der Ausdruck eines blos Naturſchönen
iſt. Iſt auch ein Naturſchönes ausgewählt worden, das, ſo weit nur
immer möglich iſt, dem darzuſtellenden Bilde entſpricht, ſo iſt es doch auch
in den Theilen, worin es entſpricht, mit allen Mängeln des Naturſchönen
behaftet. Als ſolches wirkt es aber auch ſtoffartig (vergl. §. 381, 1.);
bei wirklichen Stücken einer Landſchaft, bei lebendigen Thieren, die im
Theater auftreten, iſt dieſe pathologiſche Beziehung, obwohl vorhanden,
weniger fühlbar, als gegenüber der wirklichen Menſchengeſtalt, namentlich
der weiblichen; die Ausführung der Weiberrollen durch Knaben auf der
antiken und auf der älteren Schaubühne der neueren Zeit war daher
äſthetiſch beſſer begründet, als man gewöhnlich annimmt: das Urtheil des
männlichen Publikums wurde durch kein geſchlechtliches Intereſſe getrübt
(vergl. Ed. Devrient Geſch. d. deutſch. Schauſpielerkunſt B. 1, S. 259).
— Wir werden ſeines Orts die wichtigen Folgerungen aus dieſen Sätzen
ziehen; es gründet ſich auf ſie eine beſondere Nebenabtheilung in der
Lehre von den Künſten, in welcher, trotz ihrer übrigens hohen Bedeutung,
auch die Schauſpielkunſt ihren Ort einzunehmen hat.

§. 491.

An dieſem Stoffe muß, damit er zum Träger (§. 490) umgebildet werde,
eine Thätigkeit ausgeübt werden, welche als Vollſtrechung des Phantaſiebildes
die doppelte Natur hat, daß ſie nur die andere, in ihr als Anlage, Anſatz
ſchon enthaltene Seite der Phantaſiethätigkeit, ebenſoſehr aber ein weſentlich
Neues iſt. Denn ſie muß den Stoff durch Stoff, alſo ſinnlich bewältigen und
ſetzt daher ein beſonderes Vermögen und eine beſondere Uebung voraus, ein
Können: Kunſt.

Was die Technik des Künſtlers ausführt, iſt im innern Bilde ſchon
mitgeſetzt; wir erinnern uns, daß die Phantaſie (ſchon als Einbildungs-
kraft) eine innerlich geſetzte Sinnlichkeit iſt (§. 387, 2.); der Baukünſtler
baut, der Bildhauer modellirt, der Maler malt, der Muſiker componirt
innerlich, ehe er es äußerlich thut, der Dichter führt geiſtig bewegte Bilder-
züge in ſeinem Innern vorüber und ihm klingt zugleich der Rhythmus
der Sprache mit an, in dem er ſie ſeinen Hörern mittheilen will. Die
wirkliche Ausführung erſcheint nun nur als ein weiterer Schritt derſelben

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[10/0022] als in unbewegter und ſtummer (tableaux vivants, Kellerſche Bilder); vollſtändig iſt ſie aber auch dort nicht. Der lebendige Stoff drückt, dieß alſo iſt unſer Hauptſatz, etwas für ſich aus, aber etwas Anderes, als was er in dieſem Zuſammenhang ſoll. Dieſer fremde Ausdruck iſt aber nicht nur darum ſtörend, weil er nicht in den Zuſammenhang gehört, ſondern noch mehr darum, weil er der Ausdruck eines blos Naturſchönen iſt. Iſt auch ein Naturſchönes ausgewählt worden, das, ſo weit nur immer möglich iſt, dem darzuſtellenden Bilde entſpricht, ſo iſt es doch auch in den Theilen, worin es entſpricht, mit allen Mängeln des Naturſchönen behaftet. Als ſolches wirkt es aber auch ſtoffartig (vergl. §. 381, 1.); bei wirklichen Stücken einer Landſchaft, bei lebendigen Thieren, die im Theater auftreten, iſt dieſe pathologiſche Beziehung, obwohl vorhanden, weniger fühlbar, als gegenüber der wirklichen Menſchengeſtalt, namentlich der weiblichen; die Ausführung der Weiberrollen durch Knaben auf der antiken und auf der älteren Schaubühne der neueren Zeit war daher äſthetiſch beſſer begründet, als man gewöhnlich annimmt: das Urtheil des männlichen Publikums wurde durch kein geſchlechtliches Intereſſe getrübt (vergl. Ed. Devrient Geſch. d. deutſch. Schauſpielerkunſt B. 1, S. 259). — Wir werden ſeines Orts die wichtigen Folgerungen aus dieſen Sätzen ziehen; es gründet ſich auf ſie eine beſondere Nebenabtheilung in der Lehre von den Künſten, in welcher, trotz ihrer übrigens hohen Bedeutung, auch die Schauſpielkunſt ihren Ort einzunehmen hat. §. 491. An dieſem Stoffe muß, damit er zum Träger (§. 490) umgebildet werde, eine Thätigkeit ausgeübt werden, welche als Vollſtrechung des Phantaſiebildes die doppelte Natur hat, daß ſie nur die andere, in ihr als Anlage, Anſatz ſchon enthaltene Seite der Phantaſiethätigkeit, ebenſoſehr aber ein weſentlich Neues iſt. Denn ſie muß den Stoff durch Stoff, alſo ſinnlich bewältigen und ſetzt daher ein beſonderes Vermögen und eine beſondere Uebung voraus, ein Können: Kunſt. Was die Technik des Künſtlers ausführt, iſt im innern Bilde ſchon mitgeſetzt; wir erinnern uns, daß die Phantaſie (ſchon als Einbildungs- kraft) eine innerlich geſetzte Sinnlichkeit iſt (§. 387, 2.); der Baukünſtler baut, der Bildhauer modellirt, der Maler malt, der Muſiker componirt innerlich, ehe er es äußerlich thut, der Dichter führt geiſtig bewegte Bilder- züge in ſeinem Innern vorüber und ihm klingt zugleich der Rhythmus der Sprache mit an, in dem er ſie ſeinen Hörern mittheilen will. Die wirkliche Ausführung erſcheint nun nur als ein weiterer Schritt derſelben

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/22>, abgerufen am 21.11.2024.