Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
unwahrscheinliche Verdacht hinzutritt, daß Othello verbotenen Umgang mit 2. Zu wenig: dieß hat dieselbe doppelte Bedeutung: es fehlt 3. Daß die Thätigkeit, wodurch dieses oberste Compositionsgesetz
unwahrſcheinliche Verdacht hinzutritt, daß Othello verbotenen Umgang mit 2. Zu wenig: dieß hat dieſelbe doppelte Bedeutung: es fehlt 3. Daß die Thätigkeit, wodurch dieſes oberſte Compoſitionsgeſetz <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0036" n="24"/> unwahrſcheinliche Verdacht hinzutritt, daß Othello verbotenen Umgang mit<lb/> ſeinem Weibe gehabt habe.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Zu wenig: dieß hat dieſelbe doppelte Bedeutung: es fehlt<lb/> entweder im Weſentlichen, die Grund-Idee iſt nicht ausgedrückt, oder<lb/> ſie iſt in den Theilen des Ganzen nicht erſchöpfend ausgedrückt. Das<lb/> Erſtere iſt der Fall, wenn es einem Kunſtwerk an dem letzten Lichtpuncte<lb/> fehlt, der die Seele des Ganzen zu Tage bringen ſollte, wenn die<lb/> innerſte Abſicht wie mit einem Schleier bedeckt iſt; ein ſolcher Mangel<lb/> wird an gewiſſen Hauptſtellen, wie im Porträt an Auge und Mund am<lb/> empfindlichſten gefühlt werden, und was in dieſem Beiſpiel die letzten<lb/> treffenden Lichter und Schatten ſind, das kann im hiſtoriſchen Bild, im<lb/> Roman, Drama eine ganze Figur, Scene ſeyn, womit der Künſtler in<lb/> der Schuld geblieben iſt; der Fehler wird ſich aber ebenſoſehr durch das<lb/> Ganze hindurchziehen als eine Undurchſichtigkeit, ein Mangel an Relief,<lb/> an ſchlagendem Durchbruch der Bedeutung in allen Hauptſtellen.<lb/> Solche Werke beunruhigen dann, wie wenn man eine verwiſchte<lb/> Schrift bey ſchlechtem Lichte leſen ſoll. Es kann aber auch, und dieß<lb/> iſt der andere Fall, alles Nothwendige da und doch das Ganze dürftig<lb/> ſein. Ein dramatiſcher Dichter gibt z. B. holzſchnittartig die Grundzüge<lb/> einer Leidenſchaft, aber nicht ihren vollen Strom, nicht ihre Beredtſamkeit,<lb/> Sophiſtik, Bilderfülle, oder er ſpricht ein Moment des Ganzen aus<lb/> durch Eine Figur, Ein Ereigniß, Eine Handlung, wo der reiche Dichter,<lb/> ohne darum in das Zuviel zu gerathen, daſſelbe Moment in mehreren<lb/> Tönen, Schattirungen, durch mehrere Perſonen, Scenen giebt. So<lb/> entfaltet Schillers Wilhelm Tell das revolutionäre Element in<lb/> den verſchiedenen Formen der jugendlichen Leidenſchaft, der beſonnenen<lb/> Berathung, der einſilbigen Entſchloſſenheit u. ſ. w. Es führt übrigens<lb/> dieſer Punct auf ein anderweitiges Compoſitionsgeſetz, welches<lb/> in der weiteren Entwicklung zu erörtern iſt. Hier iſt nur noch allgemein<lb/> auszuſprechen, daß alle ächte Kunſt nicht dünn und ſpärlich, ſondern voll<lb/> und üppig quillt, nicht aus Einer, ſondern vielen Röhren ſprudelt und<lb/> mehr vor dem Zuviel als dem zu Wenig ſich zu hüten hat.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">3. Daß die Thätigkeit, wodurch dieſes oberſte Compoſitionsgeſetz<lb/> erfüllt wird, gleichzeitig ein wiederaufgenommenes Schaffen und ein<lb/> kritiſches Meſſen ſein muß, dieſe Forderung begründet für das Begreifen<lb/> des vorliegenden Actes keine neue Schwierigkeit. Wenn ſchon die<lb/> Erzeugung des innern Ideals eine Einheit von Begeiſterung und<lb/> Beſonnenheit iſt, ſo erleichtert in der Ausführung der Skizze die nun<lb/> vor dem äußern Sinn ſich ausbreitende Form das Zuſammenwirken der<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0036]
unwahrſcheinliche Verdacht hinzutritt, daß Othello verbotenen Umgang mit
ſeinem Weibe gehabt habe.
2. Zu wenig: dieß hat dieſelbe doppelte Bedeutung: es fehlt
entweder im Weſentlichen, die Grund-Idee iſt nicht ausgedrückt, oder
ſie iſt in den Theilen des Ganzen nicht erſchöpfend ausgedrückt. Das
Erſtere iſt der Fall, wenn es einem Kunſtwerk an dem letzten Lichtpuncte
fehlt, der die Seele des Ganzen zu Tage bringen ſollte, wenn die
innerſte Abſicht wie mit einem Schleier bedeckt iſt; ein ſolcher Mangel
wird an gewiſſen Hauptſtellen, wie im Porträt an Auge und Mund am
empfindlichſten gefühlt werden, und was in dieſem Beiſpiel die letzten
treffenden Lichter und Schatten ſind, das kann im hiſtoriſchen Bild, im
Roman, Drama eine ganze Figur, Scene ſeyn, womit der Künſtler in
der Schuld geblieben iſt; der Fehler wird ſich aber ebenſoſehr durch das
Ganze hindurchziehen als eine Undurchſichtigkeit, ein Mangel an Relief,
an ſchlagendem Durchbruch der Bedeutung in allen Hauptſtellen.
Solche Werke beunruhigen dann, wie wenn man eine verwiſchte
Schrift bey ſchlechtem Lichte leſen ſoll. Es kann aber auch, und dieß
iſt der andere Fall, alles Nothwendige da und doch das Ganze dürftig
ſein. Ein dramatiſcher Dichter gibt z. B. holzſchnittartig die Grundzüge
einer Leidenſchaft, aber nicht ihren vollen Strom, nicht ihre Beredtſamkeit,
Sophiſtik, Bilderfülle, oder er ſpricht ein Moment des Ganzen aus
durch Eine Figur, Ein Ereigniß, Eine Handlung, wo der reiche Dichter,
ohne darum in das Zuviel zu gerathen, daſſelbe Moment in mehreren
Tönen, Schattirungen, durch mehrere Perſonen, Scenen giebt. So
entfaltet Schillers Wilhelm Tell das revolutionäre Element in
den verſchiedenen Formen der jugendlichen Leidenſchaft, der beſonnenen
Berathung, der einſilbigen Entſchloſſenheit u. ſ. w. Es führt übrigens
dieſer Punct auf ein anderweitiges Compoſitionsgeſetz, welches
in der weiteren Entwicklung zu erörtern iſt. Hier iſt nur noch allgemein
auszuſprechen, daß alle ächte Kunſt nicht dünn und ſpärlich, ſondern voll
und üppig quillt, nicht aus Einer, ſondern vielen Röhren ſprudelt und
mehr vor dem Zuviel als dem zu Wenig ſich zu hüten hat.
3. Daß die Thätigkeit, wodurch dieſes oberſte Compoſitionsgeſetz
erfüllt wird, gleichzeitig ein wiederaufgenommenes Schaffen und ein
kritiſches Meſſen ſein muß, dieſe Forderung begründet für das Begreifen
des vorliegenden Actes keine neue Schwierigkeit. Wenn ſchon die
Erzeugung des innern Ideals eine Einheit von Begeiſterung und
Beſonnenheit iſt, ſo erleichtert in der Ausführung der Skizze die nun
vor dem äußern Sinn ſich ausbreitende Form das Zuſammenwirken der
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