Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
Begriffs der Motivirung von dem Begriffe des Motivs noch bestimmter
Begriffs der Motivirung von dem Begriffe des Motivs noch beſtimmter <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0051" n="39"/> Begriffs der Motivirung von dem Begriffe des Motivs noch beſtimmter<lb/> ein. Schon dort wurde geſagt, bei jenem blicke man rückwärts, bei<lb/> dieſem vorwärts. Ein gutes Motiv, ein unglückliches Motiv, ein unbe-<lb/> nütztes Motiv iſt grundverſchieden von einem wohl, falſch, nicht motivirten<lb/> Theil eines Kunſtwerks: im erſteren Fall iſt noch nichts da, als ein<lb/> Ausgangspunkt, der ſich reich oder dürftig entwickelt, der nicht fruchtbar,<lb/> oder der fruchtbar iſt, dem aber der Künſtler ſeine Frucht nicht abgelockt<lb/> hat; im zweiten iſt immer etwas ſchon da und man ſieht zurück und<lb/> fragt, ob es Grund habe, ob es auf überzeugende Weiſe aus aufgezeigten<lb/> Bedingungen hervorgehe. Ich höre oder leſe z. B. von einem Verbre-<lb/> chen; ich erkenne an dem Stoffe, daß ſich das innerſte Weſen des Mords<lb/> an ihm darſtellen läßt, ſo wird er mir ein Motiv; daraus fließen wieder<lb/> einzelne Schönheiten und ganz untergeordnete. Allein ich kann dennoch<lb/> in der Ausführung verſäumen, die Haupthandlung und einzelne in ihr<lb/> begriffene Handlungen wahrſcheinlich zu machen, aus evidenten Trieb-<lb/> federn zu erklären und ebenſo die einzelnen Bewegungen; die Kämpfe des<lb/> Innern, Schuldbewußtſeyn, Reue ſtelle ich geiſtvoll dar, aber die Beweg-<lb/> gründe ſind nicht gehörig ins Licht geſetzt; ich habe alſo ein gutes Motiv<lb/> benützt, aber ich habe nicht gut motivirt. — Es iſt nun vor Allem der<lb/> Umfang des Begriffs der Motivirung zu beſtimmen. Er bezieht ſich<lb/> keineswegs blos auf menſchliche Zuſtände, ſondern auf das ganze Gebiet<lb/> des Naturſchönen, wie es nun als Kunſtobject auftritt. In der Landſchaft<lb/> muß z. B. der allgemeine Luft-Ton, Färbung, Localton als begründet<lb/> erſcheinen in dem angenommenen oder dargeſtellten Stande des beleuch-<lb/> tenden Körpers; in der Bildung der Pflanze, des thieriſchen und menſch-<lb/> lichen Organismus (noch abgeſehen von ſeinem ſeeliſchen Ausdruck) iſt<lb/> der Uebergang von einer Hauptform zur andern durch Knoten, Gelenke,<lb/> anwachſende, fallende Linien vermittelt, d. h. in der Künſtlerſprache moti-<lb/> virt. Der ganze organiſche Leib iſt eine wechſelſeitige Motivirung, denn<lb/> er iſt ein Ganzes, worin Alles gegenſeitig Urſache und Wirkung iſt; der<lb/> Künſtler hat dieß Wechſelverhältniß zu verſtehen und in ein helleres Licht zu<lb/> ſetzen. Ebenſo die Bewegung und Lage des Körpers: Stehen, Sitzen,<lb/> Liegen, Haltung der einzelnen Glieder, dann ſelbſt die Falten und Fal-<lb/> tengruppen der Kleidung ſollen motivirt ſein durch Ort, Bedürfniß,<lb/> Geſetz der Schwere, Kraft oder Ermattung, Leidenſchaft oder Ruhe, Schnitt<lb/> und Naht u. ſ. f. Treten wir tiefer in die menſchliche Welt ein, ſo<lb/> ſcheidet ſich von dem inneren Leben zunächſt wieder ein mehr äußeres<lb/> Gebiet ab: der Stand der Dinge nämlich, wie er thatſächlich als eine<lb/> Summe äußerer Umſtände gegeben iſt und erſt weiterhin der Menſch<lb/> durch ihn auf eine gewiſſe Weiſe geſtimmt und angeregt wird, ſoll ſich<lb/> ſelbſt wieder aus Anderem und Früherem erklären. Hier fragt ſich, da<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [39/0051]
Begriffs der Motivirung von dem Begriffe des Motivs noch beſtimmter
ein. Schon dort wurde geſagt, bei jenem blicke man rückwärts, bei
dieſem vorwärts. Ein gutes Motiv, ein unglückliches Motiv, ein unbe-
nütztes Motiv iſt grundverſchieden von einem wohl, falſch, nicht motivirten
Theil eines Kunſtwerks: im erſteren Fall iſt noch nichts da, als ein
Ausgangspunkt, der ſich reich oder dürftig entwickelt, der nicht fruchtbar,
oder der fruchtbar iſt, dem aber der Künſtler ſeine Frucht nicht abgelockt
hat; im zweiten iſt immer etwas ſchon da und man ſieht zurück und
fragt, ob es Grund habe, ob es auf überzeugende Weiſe aus aufgezeigten
Bedingungen hervorgehe. Ich höre oder leſe z. B. von einem Verbre-
chen; ich erkenne an dem Stoffe, daß ſich das innerſte Weſen des Mords
an ihm darſtellen läßt, ſo wird er mir ein Motiv; daraus fließen wieder
einzelne Schönheiten und ganz untergeordnete. Allein ich kann dennoch
in der Ausführung verſäumen, die Haupthandlung und einzelne in ihr
begriffene Handlungen wahrſcheinlich zu machen, aus evidenten Trieb-
federn zu erklären und ebenſo die einzelnen Bewegungen; die Kämpfe des
Innern, Schuldbewußtſeyn, Reue ſtelle ich geiſtvoll dar, aber die Beweg-
gründe ſind nicht gehörig ins Licht geſetzt; ich habe alſo ein gutes Motiv
benützt, aber ich habe nicht gut motivirt. — Es iſt nun vor Allem der
Umfang des Begriffs der Motivirung zu beſtimmen. Er bezieht ſich
keineswegs blos auf menſchliche Zuſtände, ſondern auf das ganze Gebiet
des Naturſchönen, wie es nun als Kunſtobject auftritt. In der Landſchaft
muß z. B. der allgemeine Luft-Ton, Färbung, Localton als begründet
erſcheinen in dem angenommenen oder dargeſtellten Stande des beleuch-
tenden Körpers; in der Bildung der Pflanze, des thieriſchen und menſch-
lichen Organismus (noch abgeſehen von ſeinem ſeeliſchen Ausdruck) iſt
der Uebergang von einer Hauptform zur andern durch Knoten, Gelenke,
anwachſende, fallende Linien vermittelt, d. h. in der Künſtlerſprache moti-
virt. Der ganze organiſche Leib iſt eine wechſelſeitige Motivirung, denn
er iſt ein Ganzes, worin Alles gegenſeitig Urſache und Wirkung iſt; der
Künſtler hat dieß Wechſelverhältniß zu verſtehen und in ein helleres Licht zu
ſetzen. Ebenſo die Bewegung und Lage des Körpers: Stehen, Sitzen,
Liegen, Haltung der einzelnen Glieder, dann ſelbſt die Falten und Fal-
tengruppen der Kleidung ſollen motivirt ſein durch Ort, Bedürfniß,
Geſetz der Schwere, Kraft oder Ermattung, Leidenſchaft oder Ruhe, Schnitt
und Naht u. ſ. f. Treten wir tiefer in die menſchliche Welt ein, ſo
ſcheidet ſich von dem inneren Leben zunächſt wieder ein mehr äußeres
Gebiet ab: der Stand der Dinge nämlich, wie er thatſächlich als eine
Summe äußerer Umſtände gegeben iſt und erſt weiterhin der Menſch
durch ihn auf eine gewiſſe Weiſe geſtimmt und angeregt wird, ſoll ſich
ſelbſt wieder aus Anderem und Früherem erklären. Hier fragt ſich, da
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