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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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kein abgeschlossener einzelner organischer Körper vorliegt, wie weit die
Motivirung zurückgehen müsse. Wir erinnern, um die Frage näher zu
bezeichnen, an das zu §. 336, 2. angeführte Beispiel aus Wallensteins
Lager. Nicht uninteressant in derselben Richtung ist ein späteres Ein-
schiebsel in Göthes Faust: der Dichter hielt für nöthig, zu motiviren,
warum Mephistopheles den Helden in die Hexenküche führt, und fügte zu
diesem Zweck die Worte: "warum denn just -- nicht machen" (erst in
der zweiten Ausgabe) ein. Ein Genrebild versetzt uns in eine arme
Hütte: nun kann es im Interesse des Malers liegen, durch den
Charakter der Figuren erschließen zu lassen, wie diese Armuth entstanden
sei, in einem andern Fall aber auch nicht. Tiefer geht die ganze Frage,
wenn von einer Sachlage die Rede ist, die nicht blos eine Summe
äußerer Umstände, sondern mit solchen vereinigt eine moralische Situation
umfaßt: z. B. der Zustand einer Familie, eines Volks, mit welchem eine
Erzählung, ein Drama beginnt. So die Familien Montague und Capulet
in Romeo und Julie: Shakespeare hat ihren Haß als ein Vorausgesetztes
eingeführt, nicht motivirt. Warum nicht? Und warum ist es ein ander-
mal nothwendig? Man sieht, daß hieher auch der Charakter noch gezogen
werden kann, wie er, bereits reif und fertig, im Anfang eines Kunstwerks
auftritt, z. B. Capulet; und da fragt es sich, wie weit das Werden eines
solchen Charakters nachträglich sich erklären müsse. Auch die leibliche Er-
scheinung einer Person gehört hieher; ihre Bildung soll als Ausdruck
ihres Innern erscheinen, aus diesem physiognomisch motivirt seyn und
sammt ihm als Frucht einer Lebensgeschichte erkannt werden. Nun erst
führt uns unser Begriff weiter zu den Gefühlszuständen, Leidenschaften,
Handlungen, weiteren Gestaltungen eines gegebenen Charakters, die ein
ästhetisches Ganzes nicht als gegeben, sondern als vor unsern Augen
werdend uns vorführt. Hier erst tritt der Begriff des Motivs in die
Bedeutung ein, wie er in §. 336, 2. dort aber nur stoffartig und noch
mit Abweisung der Frage, wie weit die Kunst in der Reihe der Motive
zurückzugreifen habe, schon aufgestellt ist. Unter Motiv versteht man nun
einen Umstand, der auf das Gemüth wirkt und einen Trieb anregt: der
Wille genehmigt diese Anregung blind, wenn er charakterlos, denkend, wenn
er Charakter ist, und erhebt ihn so zum Bestimmungsgrunde des Handelns;
die Triebfeder ist daher die Einheit des äußern Anstoßes, des aufgeregten
Triebs und seiner Erhebung in den Willen. So ist für Richard III.
seine Häßlichkeit ein Umstand, durch den er sich gleichsam von der Gat-
tung ausgestoßen fühlt, das zündet in ihm den Haß gegen die Gattung
an und diesen Haß erhebt er mit Bewußtsein zum Grunde seines Han-
delns: dieß heißt Motivirung. Unser Gesetz verlangt dann, daß keine
innere Bewegung, Stimmung, Leidenschaft, That unmotivirt auftrete;

kein abgeſchloſſener einzelner organiſcher Körper vorliegt, wie weit die
Motivirung zurückgehen müſſe. Wir erinnern, um die Frage näher zu
bezeichnen, an das zu §. 336, 2. angeführte Beiſpiel aus Wallenſteins
Lager. Nicht unintereſſant in derſelben Richtung iſt ein ſpäteres Ein-
ſchiebſel in Göthes Fauſt: der Dichter hielt für nöthig, zu motiviren,
warum Mephiſtopheles den Helden in die Hexenküche führt, und fügte zu
dieſem Zweck die Worte: „warum denn juſt — nicht machen“ (erſt in
der zweiten Ausgabe) ein. Ein Genrebild verſetzt uns in eine arme
Hütte: nun kann es im Intereſſe des Malers liegen, durch den
Charakter der Figuren erſchließen zu laſſen, wie dieſe Armuth entſtanden
ſei, in einem andern Fall aber auch nicht. Tiefer geht die ganze Frage,
wenn von einer Sachlage die Rede iſt, die nicht blos eine Summe
äußerer Umſtände, ſondern mit ſolchen vereinigt eine moraliſche Situation
umfaßt: z. B. der Zuſtand einer Familie, eines Volks, mit welchem eine
Erzählung, ein Drama beginnt. So die Familien Montague und Capulet
in Romeo und Julie: Shakespeare hat ihren Haß als ein Vorausgeſetztes
eingeführt, nicht motivirt. Warum nicht? Und warum iſt es ein ander-
mal nothwendig? Man ſieht, daß hieher auch der Charakter noch gezogen
werden kann, wie er, bereits reif und fertig, im Anfang eines Kunſtwerks
auftritt, z. B. Capulet; und da fragt es ſich, wie weit das Werden eines
ſolchen Charakters nachträglich ſich erklären müſſe. Auch die leibliche Er-
ſcheinung einer Perſon gehört hieher; ihre Bildung ſoll als Ausdruck
ihres Innern erſcheinen, aus dieſem phyſiognomiſch motivirt ſeyn und
ſammt ihm als Frucht einer Lebensgeſchichte erkannt werden. Nun erſt
führt uns unſer Begriff weiter zu den Gefühlszuſtänden, Leidenſchaften,
Handlungen, weiteren Geſtaltungen eines gegebenen Charakters, die ein
äſthetiſches Ganzes nicht als gegeben, ſondern als vor unſern Augen
werdend uns vorführt. Hier erſt tritt der Begriff des Motivs in die
Bedeutung ein, wie er in §. 336, 2. dort aber nur ſtoffartig und noch
mit Abweiſung der Frage, wie weit die Kunſt in der Reihe der Motive
zurückzugreifen habe, ſchon aufgeſtellt iſt. Unter Motiv verſteht man nun
einen Umſtand, der auf das Gemüth wirkt und einen Trieb anregt: der
Wille genehmigt dieſe Anregung blind, wenn er charakterlos, denkend, wenn
er Charakter iſt, und erhebt ihn ſo zum Beſtimmungsgrunde des Handelns;
die Triebfeder iſt daher die Einheit des äußern Anſtoßes, des aufgeregten
Triebs und ſeiner Erhebung in den Willen. So iſt für Richard III.
ſeine Häßlichkeit ein Umſtand, durch den er ſich gleichſam von der Gat-
tung ausgeſtoßen fühlt, das zündet in ihm den Haß gegen die Gattung
an und dieſen Haß erhebt er mit Bewußtſein zum Grunde ſeines Han-
delns: dieß heißt Motivirung. Unſer Geſetz verlangt dann, daß keine
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[40/0052] kein abgeſchloſſener einzelner organiſcher Körper vorliegt, wie weit die Motivirung zurückgehen müſſe. Wir erinnern, um die Frage näher zu bezeichnen, an das zu §. 336, 2. angeführte Beiſpiel aus Wallenſteins Lager. Nicht unintereſſant in derſelben Richtung iſt ein ſpäteres Ein- ſchiebſel in Göthes Fauſt: der Dichter hielt für nöthig, zu motiviren, warum Mephiſtopheles den Helden in die Hexenküche führt, und fügte zu dieſem Zweck die Worte: „warum denn juſt — nicht machen“ (erſt in der zweiten Ausgabe) ein. Ein Genrebild verſetzt uns in eine arme Hütte: nun kann es im Intereſſe des Malers liegen, durch den Charakter der Figuren erſchließen zu laſſen, wie dieſe Armuth entſtanden ſei, in einem andern Fall aber auch nicht. Tiefer geht die ganze Frage, wenn von einer Sachlage die Rede iſt, die nicht blos eine Summe äußerer Umſtände, ſondern mit ſolchen vereinigt eine moraliſche Situation umfaßt: z. B. der Zuſtand einer Familie, eines Volks, mit welchem eine Erzählung, ein Drama beginnt. So die Familien Montague und Capulet in Romeo und Julie: Shakespeare hat ihren Haß als ein Vorausgeſetztes eingeführt, nicht motivirt. Warum nicht? Und warum iſt es ein ander- mal nothwendig? Man ſieht, daß hieher auch der Charakter noch gezogen werden kann, wie er, bereits reif und fertig, im Anfang eines Kunſtwerks auftritt, z. B. Capulet; und da fragt es ſich, wie weit das Werden eines ſolchen Charakters nachträglich ſich erklären müſſe. Auch die leibliche Er- ſcheinung einer Perſon gehört hieher; ihre Bildung ſoll als Ausdruck ihres Innern erſcheinen, aus dieſem phyſiognomiſch motivirt ſeyn und ſammt ihm als Frucht einer Lebensgeſchichte erkannt werden. Nun erſt führt uns unſer Begriff weiter zu den Gefühlszuſtänden, Leidenſchaften, Handlungen, weiteren Geſtaltungen eines gegebenen Charakters, die ein äſthetiſches Ganzes nicht als gegeben, ſondern als vor unſern Augen werdend uns vorführt. Hier erſt tritt der Begriff des Motivs in die Bedeutung ein, wie er in §. 336, 2. dort aber nur ſtoffartig und noch mit Abweiſung der Frage, wie weit die Kunſt in der Reihe der Motive zurückzugreifen habe, ſchon aufgeſtellt iſt. Unter Motiv verſteht man nun einen Umſtand, der auf das Gemüth wirkt und einen Trieb anregt: der Wille genehmigt dieſe Anregung blind, wenn er charakterlos, denkend, wenn er Charakter iſt, und erhebt ihn ſo zum Beſtimmungsgrunde des Handelns; die Triebfeder iſt daher die Einheit des äußern Anſtoßes, des aufgeregten Triebs und ſeiner Erhebung in den Willen. So iſt für Richard III. ſeine Häßlichkeit ein Umſtand, durch den er ſich gleichſam von der Gat- tung ausgeſtoßen fühlt, das zündet in ihm den Haß gegen die Gattung an und dieſen Haß erhebt er mit Bewußtſein zum Grunde ſeines Han- delns: dieß heißt Motivirung. Unſer Geſetz verlangt dann, daß keine innere Bewegung, Stimmung, Leidenſchaft, That unmotivirt auftrete;

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/52>, abgerufen am 21.11.2024.